Populismus bedroht wirtschaftliche Stabilität
29.11.2016
Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG / Foto: © Bank J. Safra Sarasin
Häufig wird argumentiert, dass die Globalisierungsgewinne zu ungleich verteilt seien und die Verlierer von Freihandel nicht adäquat kompensiert würden. Wir bezweifeln, dass dies der Hauptgrund für die gegenwärtige wirtschaftliche Unzufriedenheit Vieler ist. Die größten Handelsgewinne haben normalerweise ihren Ursprung in günstigeren Importen – heutzutage vielfach von Kleidung, Flachbildschirmen und Smartphones. Sicherlich gehen in der mit Importen konkurrierenden Industrie auch Arbeitsplätze verloren, die nicht vom stärker wachsenden Exportsektor aufgefangen werden können. Diese Jobverluste halten wir jedoch für gering im Vergleich zu denen, die sich auf technologischen Wandel zurückführen lassen. Die Digitalisierung des Arbeitsumfeldes ist eine viel prägendere Kraft für unsere Gesellschaft, die mit Arbeitsplatzverlusten und einer sich verändernden Einkommensstruktur einhergeht. Überproportional profitieren können von ihr urbane und international ausgerichtete Bevölkerungsteile sowie Unternehmen, die globale Skalenerträge nun noch besser ausnützen können. Facebook, Google und Uber sind dafür die besten Beispiele. Viele Regierungen haben es bislang versäumt, die Besteuerung von Haushalten und Unternehmen auf das neue Wirtschaftsumfeld anzupassen. Die Einkommensverteilung ist daher tatsächlich für viele unerwünscht und ungewohnt ungleicher geworden. Eine steigende Unzufriedenheit sollte daher nicht überraschen und auch nicht, dass sie in Protest gegen Freihandel und nicht gegen «freies Wi-Fi» mündet.
Für Kontinentaleuropa wird die Frage sein, ob die Wut der unzufriedenen Bevölkerungsteile stark genug ist, dass sie zu ähnlichen Wahlergebnissen wie in den USA und UK führen kann. Hier wären wir zum jetzigen Zeitpunkt noch optimistisch. Die wirtschaftliche Macht ist derzeit weniger stark konzentriert, die Einkommen gleicher verteilt und die Bevölkerung räumlich nicht so stark segregiert wie in den USA oder UK. Und je höher die Wahrscheinlichkeit für Angestellte und Management ist, sich beispielsweise im gleichen Bus oder Zug auf dem Arbeitsweg zu treffen, desto geringer erachten wir das Risiko, dass Teile der Bevölkerung gegen die wirtschaftlichen Interessen eines ganzen Landes stimmen – wie das unserer Einschätzung nach in UK der Fall war. Dies bedeutet nicht, dass wir keinen politischen Handlungsbedarf der etablierten Parteien sehen, keinen Stimmenzuwachs populistischer Parteien erwarten oder von einer von Euphorie getriebenen Verfassungsreform in Italien ausgehen. Auch können wir uns EU- und Euro-Referenden vorstellen oder dass der Rettungsschirm des ESM notwendig wird, wenn Strukturreformen in dem ein oder anderen Land nicht stärker angegangen werden. Allerdings gehen wir davon aus, dass eine größere Mehrheit der Wähler sich im jetzigen System immer noch besser stellt und fühlt als in den von den Populisten propagierten Alternativen. Wir würden daher die politischen Ergebnisse in UK und den USA für Kontinentaleuropa nicht linear fortschreiben und auf einen baldigen Verfall der EU oder des Euro-Raums setzen. Statt eines Systemwechsels sollten die europäischen Finanzmärkte eher eine erneut intensive Periode des kreativen Durchwurschtelns mit den gewohnten Höhen und Tiefen einpreisen.
Kolumne von Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG