Bis zur Unsterblichkeit und noch viel weiter?
19.04.2021
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Die zwei Seiten des Dr. de Grey
Sein Ansatz: de Grey will den Zellverfall stoppen, u. a. durch das Entfernen von altersschwachen Zellen, durch Stammzellen und durch Gentherapie. In 20 Jahren sieht er eine 50 %-ige Wahrscheinlichkeit, Menschen vor dem Tod durch Altersschwäche retten zu können. Was zunächst so verwirrt klingt wie die Frisur von Boris Johnson aussieht, verdient Differenzierung. Beträchtliche Teile von de Greys Forschung sind voll in der Mainstream-Wissenschaft integriert. Seine radikalen Ziele und Prognosen hingegen weniger. Die renommierte Biochemikerin Prof. Judith Campisi kennt den Anti-Aging-Pionier bestens. Sie sitzt sogar im SENS-Beirat und verrät dem Smithsonian Magazine, dass de Grey zwei Seiten habe. Die eine behauptet, der erste tausendjährige Mensch sei bereits geboren. Dies sei sein Gesicht in der Öffentlichkeit, um Aufmerksamkeit zu generieren und Spenden zu sammeln. Die andere Seite sei die wissenschaftliche. Also hat Herr Capellmann Recht und ist de Greys Ziel nichts als Clickbaiting oder Fundraising? Zumindest wäre er mit der „Methusalem-Masche“ nicht allein. Denn auch James W. Vaupel, immerhin ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock (MPIDR), hält 200 Jahre Lebensdauer für möglich.
Mehr Leben in den Jahren statt mehr Lebensjahre
Während die Forschung weiterhin ihre Grenzen austestet, werden immer mehr Menschen immer älter – und bleiben länger fit. Das dürfte auch dem Schloss Bellevue nicht entgangen sein. Denn in der Jobbeschreibung unseres Präsidenten steht, dass er Hundertjährigen per Brief zum Geburtstag gratuliert. Während Heinrich Lübke 1965 nur 158 mal zum Stift greifen musste, stieg die Zahl für Joachim Gauck 2014 schon auf 6.611 mal. Im Jahr 2120 soll mehr als jedes dritte der heute neugeborenen Mädchen und ungefähr jeder zehnte Junge in den Jahrhundert-Club eintreten. Das zeigen aktuelle Berechnungen des MPIDR. Diese Super-Senioren erfreuen sich gleichzeitig einer immer längeren Gesundheitsdauer. „Wir verlängern nicht das Leiden, sondern fügen vermehrt lebenswerte Jahre hinzu,“ konstatiert Herzspezialist Prof. Dr. Christian Butter. Denn er beobachtet, dass Medikamente und Therapien Symptome alter Menschen immer besser in den Griff bekommen. Zwischen 2005 und 2013 gewannen 65-jährige Frauen 2,8 gesunde Lebensjahre hinzu, ihre verbleibende Lebenserwartung stieg in der Zeit „nur“ um 0,6 Jahre. Bei den Männern waren es 2,3 Jahre gesunde Lebensjahre mehr – bei einem Anstieg der Lebenserwartung von einem Jahr. Das ergaben Daten der europäischen Haushaltsbefragung „EU–SILC“.
Freud und Leid der Geldbörse
Diese erfreulichen Entwicklungen haben enorme Auswirkungen auf den Geldbeutel. Laut Statistischem Bundesamt betragen private Konsumausgaben pro Monat je Einpersonenhaushalt im Schnitt 1.629 Euro – also 19.548 Euro pro Jahr. Wenn wir die Faustformel des GDV zugrunde legen, dass die Deutschen ihre Lebenserwartung im Schnitt um sieben Jahre unterschätzen, entstehen zusätzliche Lebenskosten von 136.836 Euro. Diese saftige Summe verdeutlicht, warum Langlebigkeit zu den biometrischen Risiken zählt – und warum sich die Menschen früh gegen Altersarmut absichern sollten. Finanziell positiv wirkt sich hingegen aus, dass die Lücke zwischen Lebensdauer und Gesundheitsdauer langsam geschlossen wird. Denn jedes gesunde Jahr mehr bedeutet möglicherweise ein Jahr Pflege weniger. Und bei der Caritas Altenhilfe kostet ein Pflegeheimplatz durchschnittlich 31.200 Euro im Jahr – ohne Bezuschussung, so ziemlich alles inklusive. (sh)