Kehraus nach dem Brexit

04.07.2016

Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich und Osteuropa bei BlackRock

Auch mit 10 Tagen Abstand fühlt sich die Brexit-Entscheidung der Briten immer noch wie ein tiefer Einschnitt an. In der Tat halten wir die Folgen, die sich hieraus ergeben werden, für nach wie vor unabsehbar, aber potenziell sehr schwerwiegend.

Für die Finanzmärkte zeichnet sich eine lange Phase der Unsicherheit ab, während der wahrscheinlich mal ein eher positiver, mal ein eher negativer Gang der weiteren Entwicklung eingepreist wird. Es ist ratsam, für die kommenden Monate mit hoher Volatilität zu rechnen. Die Halbjahresbilanz jedenfalls hat der Brexit den Märkten verhagelt. Der DAX stand am Ende der post-Brexit-Woche wieder rund 9 % unter seinem Jahresendstand 2015 – trotz einer Erholung von 2,3 % im Wochenverlauf. Ob am Ende der 2. Jahreshälfte eine freundlichere Zahl stehen wird, hängt aus unserer Sicht weniger von den klassischen Fundamentaldaten wie Unternehmensgewinne, Wachstum oder Zinsen ab, sondern eher von den großen politischen Weichenstellungen. Wie geht es weiter im Vereinigten Königreich? Welchen Verlauf nimmt die Präsidentschaftswahl in den USA? Sicher erscheint nur, dass es mit Blick auf diese unkalkulierbaren, erratischen Ereignisse an den Kapitalmärkten nicht langweilig wird. Derweil zerlegen sich im Brexit-traumatisierten Großbritannien die großen Parteien selbst. Im Lager der sozialdemokratischen Labour-Partei wirft der rechte Flügel Parteichef Jeremy Corbyn mangelnden Einsatz für den Verbleib in der EU vor und entzieht ihm das Vertrauen. Die konservativen Tories stellen dies mit einem geradezu shakespearehaften Intrigenspiel, bei dem ausgerechnet Oberpopulist Boris Johnson politisch kalt gestellt wird, noch in den Schatten. Dies ist ein Paukenschlag, denn Johnson war nicht nur das Gesicht der Brexit-Kampagne, sondern galt auch als erster Anwärter auf die Nachfolge des zurückgetretenen Premierministers David Cameron. Nun kandidieren stattdessen Justizminister Michael Gove, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion seinem langjährigen pro-Brexit-Mitstreiter Johnson in den Rücken gefallen war, sowie Innenministerin Theresa May als aussichtsreichste Bewerber. Die Entscheidung der rund 150.000 konservativen Parteimitglieder über den neuen Tory-Chef und Premierminister am 9. September wird auch eine wichtige für Europa sein, denn während Theresa May den Verbleib in der EU befürwortet hatte und somit nun für einen moderaten Brexit-Kurs steht, lässt Michael Gove eher radikale Positionen verbreiten, darunter die Bereitschaft, für eine Begrenzung der Immigration auch den Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt zur Disposition zu stellen. Entsprechend heftig wären vermutlich die ökonomischen Verwerfungen - und damit die Marktreaktionen -, sollte Gove neuer Premier werden. Für Anleger zeichnet sich ab, dass zunehmend zwischen einem weichen und einem harten Brexit-Szenario zu differenzieren sein wird. Vielleicht kommt es aber auch gar nicht zum Brexit, jedenfalls nicht nach dem im Lissabon-Vertrag vorgesehenen Fahrplan und schon gar nicht so bald. Die EU selbst scheint sich inzwischen auf eine Hängepartie einzurichten. Sowohl die Kommission als auch Regierungschefs großer Mitgliedsländer, die vor einer Woche noch den sofortigen Austritt von Großbritannien forderten, sind stiller geworden. Der Konsens scheint in Richtung Berlins zu driften, wo Angela Merkel sich schon früh dagegen ausgesprochen hatte, Großbritannien unter Druck zu setzen. Wir halten dies für die richtige Haltung, denn nur wenn beide Seiten es vermeiden, jetzt unbedacht Fakten zu schaffen, kann die Zeit gewonnen werden, die für eine Relativierung der Mehrheitsposition in der britischen Bevölkerung gebraucht wird. Je weniger die EU insistiert, dass London zeitnah Artikel 50 des EU-Vertrages aktiviert, und je weniger die zukünftige britische Regierung darauf beharrt, das knappe Ergebnis des Brexit-Referendum unbedingt zu exekutieren, desto höher werden die Chancen für einen „Exit vom Brexit“. Letzterer wäre aus unserer Sicht die einzige Chance für Europa – und die Finanzmärkte –, aus dieser Nummer noch einmal mit einem blauen Auge herauszukommen. Was bedeutet das für Anleger? Die Dinge sind im Fluss. Anleger sollten sich auf einen Wechsel zwischen Risk-on und Risk-off-Stimmung in den nächsten Monaten vorbereiten, je nachdem, ob sich eher ein harter Brexit, ein weicher Brexit oder ein Exit vom Brexit abzeichnet. Für die Risk-off-Variante (also Brexit), die wir auf mittlere Sicht für dominant halten, empfehlen wir eine niedrige, US-fokussierte Aktienquote, US-Staatsanleihen und eine hohe Beimischung von Gold und Alternatives. Für die optimistischere Exit-vom-Brexit-Variante halten wir es für ratsam, mehr Risiko zu nehmen. Hier sollten europäische Aktien outperformen, außerdem klassische Risk-on-Positionierungen wie Schwellenlandanleihen. Nicht überraschend, dass in dieser Gemengelage die Makrodaten weniger Beachtung finden als sonst. Allenfalls der US-Arbeitsmarktbericht könnte in dieser Woche Anleger vom Brexit-Blues ablenken. Dies könnte insbesondere der Fall sein, wenn die Markterwartung von 180.000 neugeschaffenen Stellen außerhalb der Landwirtschaft, also eine Korrektur des desolaten Vormonatswertes von 38.000, deutlich übertroffen wird. Das wäre dann ein Signal dafür, dass es um die US-Wirtschaft nicht so düster bestellt ist wie befürchtet, ohne dass gleich eine Zinserhöhung der Fed zu erwarten wäre. Denn letztere ist, wie wir denken, aus einem nur zu bekannten Grund bis auf weiteres in Deckung gegangen: der Angst vor den Folgen des Brexit.

Aktueller Blick auf die Märkte von: Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich und Osteuropa bei BlackRock