Wolfgang Kubicki: Wenn ich Bundeskanzler wäre…

02.11.2020

Wolfgang Kubicki / Foto: © FDP

finanzwelt: Seit über sieben Monaten hatten die Regierenden Zeit, sich auf eine zweite Corona-Welle vorzubereiten – und heraus kommt eine zweite Art „Shutdown“, ähnlich wie schon zu Pandemiebeginn. Wie erklären Sie sich dieses Versagen? Kubicki: Wir machen schon seit Monaten darauf aufmerksam, dass vor allem die Alten- und Pflegeheime mit einer konsequenten und durchführbaren Schutzstrategie ausgestattet werden. Wenn ich außerdem sehe, wie viele Kultusministerien jetzt wie der Ochs vorm Berg stehen und den Kindern raten, auch bei Minusgraden die Fenster aufzureißen, fasse ich mir an den Kopf. Denn hier hätte man längst dafür sorgen können, dass vernünftige Lüftungssysteme angeschafft werden, die die Virenlast im Klassenzimmer effektiv senken. Jetzt rächt sich, dass fast die gesamte Corona-Politik ohne Einbeziehung der Expertise, der Ideen und der Kritik der Parlamentarier durchgezogen wurde.

Wenn die Verwaltung in vielen Ländern außerdem ins Homeoffice geschickt wird, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber oftmals keine Geräte zur Heimarbeit zu Verfügung gestellt werden, dann kann auch nichts vorangehen. Die Verwaltungen waren also gezwungen, mehr „Home“ als „Office“ zu machen, weil Deutschland technisch mittlerweile abgehängt ist. Hier griffen viele Versäumnisse der letzten Jahre ineinander.

finanzwelt: Vor dem Hintergrund zahlreicher Gerichtsurteile zur Unzulässigkeit von gewissen überstrengen Maßnahmen werfen Sie den Regierenden vor, mit den neuen Corona-Beschlüssen bewusst die Gewaltenteilung zu ignorieren. Wie beurteilen Sie also den Zustand der Demokratie in Deutschland? Kubicki: Ich will nichts dramatisieren. Aber der mangelnde Respekt vor unserer Rechtsordnung bereitet mir große Sorgen – vor allem, wenn er von der Exekutive ausbleibt. Die reine Behauptung der Kanzlerin, die Maßnahmen seien erforderlich, verhältnismäßig und geeignet, heißt noch nicht, dass es Gerichte genauso sehen. Wenn einen Tag nach einer OVG-Entscheidung in Sachsen-Anhalt gegen das Beherbergungsverbot in der Kanzlerinnenrunde wieder das bundesweite Beherbergungsverbot beschlossen wird, ohne neue, substanzielle Argumente zu liefern, offenbart das eine Ignoranz gegenüber der Judikative, die ihresgleichen sucht.

finanzwelt: Befürchten Sie bleibende Schäden unserer Demokratie auch nach Corona? Immerhin wird das Bundeskanzleramt gerade für 600 Millionen Euro gewaltig ausgebaut. Wird hier de facto die nachhaltige Verschiebung von Kompetenzen vom Parlament hin zum Bundeskanzler geplant? Kubicki: Auch hier möchte ich nichts dramatisieren. Verfassungsrechtlich würde es dem Kanzleramt nicht gelingen, den Bundestag zu schwächen. Trotzdem erleben wir derzeit eine Selbstentmachtung des Parlamentes, die vor allem auf die Union zurückzuführen ist. Die Abgeordneten der Union weigern sich, die pandemische Lage nationaler Tragweite aufzuheben und damit die Rückkehr des Parlaments in der Corona-Bekämpfung zu gewährleisten. Sie sonnen sich gerade in den guten Umfragewerten und lassen die Bundesregierung machen. Ich empfehle daher jedem, der sich fragt, wo eigentlich das Parlament bleibt, sich mit seinem regionalen Unions-Abgeordneten in Verbindung zu setzen und zu fragen, was er oder sie derzeit so treibt.

Der Schaden für unsere Demokratie entsteht aber schon heute. Wenn sich immer mehr Menschen von Entscheidungen abwenden, weil sie diese nicht mehr nachvollziehen können, können wir dem nur durch eine breite und offene parlamentarische Debatte entgegenwirken.

finanzwelt: Welche Entwicklung der deutschen Wirtschaft erwarten Sie für 2021? Vor allem: In welchem Ausmaß kommt eine Insolvenz-Welle auf uns zu und wie werden sich die Arbeitslosenzahlen entwickeln? Kubicki: Ich möchte nicht schwarzmalen. Ich will vielmehr alles im Parlament dafür tun, dass wir so stark wie möglich aus dieser Krise kommen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat zum Beispiel ein Entbürokratisierungskonzept erarbeitet, das 55 Punkte vorsieht. Das geht von einer Vereinfachung der Dokumentationspflichten beim Mindestlohn bis hin zu einer Anhebung der umsatzsteuerlichen Kleinbetragsgrenze. Aber richtig ist auch: Wenn wir nicht schnell die Weichen stellen, wird es im kommenden Jahr schwer.

finanzwelt: Zum Abschluss: Was macht Ihnen in dieser Corona-Krise Hoffnung? Kubicki: Mir macht Hoffnung, dass wir endlich wieder mehr Meinungsvielfalt als zu Beginn der Krise haben. Die Angriffe auf diejenigen, die in den ersten Wochen über die Corona-Maßnahmen überhaupt diskutieren wollten, waren schon heftig. Hier sind wir zum Glück einen Schritt weiter. Und mir macht Hoffnung, dass der Rechtsstaat trotz allem gut funktioniert. Rechtswidrige Verordnungen werden von den Gerichten wieder aufgehoben. Somit bleibt der Grundrechtsschutz auch in Zeiten der Krise gewahrt. (sh)