Wenn Indien zur Urne schreitet
17.04.2024
Stephen Dover. Foto: Franklin Templeton Institute
Indien verzeichnet in diesem Jahr das höchste BIP-Wachstum unter den globalen Volkswirtschaften. Dies wird der aktuellen Führung bei den anstehenden Wahlen zu einem deutlichen Sieg verhelfen.
Am 19. April schreitet Indien zur Urne. Die Parlamentswahl wird sich über sechs Wochen hinziehen und am 1. Juni enden. Es wird erwartet, dass die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung von Premierminister Narendra Modi einen deutlichen Sieg einfahren wird. Die Anleger richten ihren Fokus darauf, ob die Partei und ihre Partner 358 Sitze erreichen können, d. h. eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus, mit der Verfassungsänderungen umgesetzt werden könnten. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2019 erreichte die BJP 303 Sitze, während die oppositionelle Kongresspartei 52 der 543 Sitze gewann.
Eine Kombination mehrerer Faktoren stärkt die Zuversicht der Anleger in Bezug auf einen Sieg der BJP. Die Partei kann eine solide wirtschaftliche Bilanz vorweisen. So hat Indien in diesem Jahr unter den großen globalen Volkswirtschaften das höchste Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Darüber hinaus ist die Partei gut organisiert. Vertreter der Partei werden in den meisten der eine Million Wahllokale in Indien, in denen 969 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimmen abgeben werden, vor Ort sein. Überdies ging die Partei bei der Auswahl von Kandidaten bislang nach dem Leistungsprinzip vor. Hierdurch wird ein inklusives Umfeld geschaffen und das Risiko interner Zersplitterung verringert.
Eine Zweidrittelmehrheit für die BJP und ihre Partner wird Modi in die Lage versetzen, Verfassungsänderungen vorzunehmen und einige der größten Anliegen der lokalen Wirtschaft und der ausländischen Anleger abzuarbeiten. Hierzu gehört u. a. die Terminzusammenlegung für lokale und landesweite Wahlen. Derzeit werden die Wahlen in den Bundesstaaten noch an verschiedenen, über das Jahr verteilten Terminen abgehalten. Dies könnte der Produktivität einen Schub verleihen, denn Wahltage in den Bundesstaaten gelten als Feiertage. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Fähigkeit der Regierung zur Generierung zusätzlicher Steuereinnahmen durch Justiz- und Wirtschaftsreformen erhöht wird.
Konservative Fiskalpolitik
Wenn Modi für eine dritte Amtszeit gewählt wird, dürfte sein Fokus weiterhin auf einer konservativen Fiskalpolitik liegen. Die Reform der Steuer auf Waren und Dienstleistungen (GST) im Jahr 2017, mit der die beigetriebenen Steuern auf 180 Milliarden USD verdoppelt wurden, hat das Gesamtsteueraufkommen von 9,9 % des BIP im Haushaltsjahr 2020 auf 11,7 % im Haushaltsjahr 2022 erhöht. 1 Hierdurch sind die Ausgaben für Infrastruktur und Soziales gestiegen, und die Höhe des Haushaltsdefizits wurde verringert. Durch die steigenden Steuereinnahmen ist die Regierung imstande, grüne Investitionen zu fördern und ihren Fokus verstärkt auf Investitionen in IT-Hardware zu legen. Seit einiger Zeit liegt der Fokus auf Investitionen im Halbleiterbereich, da die Politik bestrebt ist, das inländische Angebot zu vergrößern und die Abhängigkeit des Technologiesektors von Software- Dienstleistungen aufzubrechen. Am 29. Februar kündigte Modi drei Investitionen in den Halbleiterbereich in Höhe von insgesamt 15 Milliarden USD an. Diese Investitionen betreffen u. a. die erste indische Wafer-Produktionsstätte mit einer Anfangskapazität von 50.000 Wafern pro Monat. 2 Das Werk wird in Gujarat gebaut. Diese Vorhaben umfassen Gemeinschaftsunternehmen mit führenden taiwanesischen und japanischen Halbleiterherstellern. Darüber hinaus wird der 2023 weltweit führende Speicherchiphersteller 3 2,75 Milliarden USD in eine Montage- und Testanlage in Gujarat investieren.
Auswirkungen auf den Aktienmarkt
Der Fokus auf Investitionen und die Steigerung des Bildungsniveaus werden zur Vergrößerung der indischen Mittelschicht beitragen und bestenfalls Millionen von Menschen aus der Armut herausholen. Unternehmen aus dem Sektor Nicht-Basiskonsumgüter dürften von diesen Maßnahmen profitieren. Durch unser Research vor Ort haben wir darüber hinaus Chancen im Gesundheitssektor ermittelt. Dies gilt sowohl für die Herstellung von Pharmazeutika als auch Gesundheitsdienstleister. Auch im Immobiliensektor, besonders bei Unternehmen mit soliden Bilanzen, sehen wir Chancen. Ausländische Anleger schlossen sich in letzter Zeit den lokalen Anlegern an und investierten in das Thema „Indiens Techade“. So drehten die Kapitalströme im März 2023 nach einer Phase mit ausländischen Kapitalabflüssen wieder ins Positive. Die inländischen Anleger bleiben in diesem Jahr bislang entschieden positiv gestimmt.
Was es zu beobachten gilt
Für den Fall, dass die BJP die anstehende Parlamentswahl in Indien gewinnt, erwarten wir keine wesentlichen Änderungen der Regierungspolitik. Modi hat seine Vision dargelegt, wie er bis 2047 den Status als Industrieland erreichen will, und er wird sich auf die weitere Umsetzung der Maßnahmen konzentrieren, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn er bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit erreicht, wird er ein Mandat für Verfassungsänderungen haben, die auch eine Reform des Justiz- und Wahlsystems umfassen dürften. Dies dürfte für die Anleger weitgehend positiv sein. Die Risiken für die Anleger liegen vor allem in den Auswirkungen einer erfolgreichen Umsetzung von Modis wirtschaftlichen Prioritäten. Bedingt durch den „Fluch des Erfolges“, könnten Indiens Exportambitionen durch eine Aufwertung des Wechselkurses gedämpft werden. Der INR/USD- Wechselkurs hat in den vergangenen zehn Jahren um 35 % abgewertet. Grund hierfür war eine Kombination aus steigendem Leistungsbilanzdefizit und großen Inflationsunterschieden zu anderen Schwellenländern, die Maßnahmen für einen schwachen Wechselkurs erforderten, um die Wettbewerbsfähigkeit im Export zu erhalten. Nach unserer Einschätzung dürften künftige Aufwertungen des Wechselkurses allmählich erfolgen, damit die Notenbanker die Kapitalbilanz stufenweise liberaliseren können, um die Aufwärtsbewegung zu steuern.
Was die weitere Entwicklung anbelangt, könnten eine geringere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zur Stromerzeugung und ein Fokus auf industrieller Wertschöpfung für den Export in einem Leistungsbilanzüberschuss resultieren und den INR/USD-Wechselkurs einem Aufwertungsdruck aussetzen. Auch wenn sich die Importkosten bei diesem Szenario verringern würden, sollte Indien nach unserer Überzeugung international wettbewerbsfähig sein und sich nicht auf einen schwächeren Wechselkurs verlassen, wenn das Land seine angebotsseitigen Maßnahmen, insbesondere die Bildungsreform, erfolgreich umsetzt.
Marktkommentar von Stephen Dover, Leiter des Franklin Templeton Institute.