„Ungarn am Abgrund“?
07.02.2013
Die ungarische Regierung ist in der Klemme. Die EU-Kommission nimmt Ungarn nun im Rahmen des laufenden Defizitverfahrens in die Pflicht. Die EU droht mit einer Suspendierung von Kohäsionsgeldern ab 2013. finanzwelt hakte nach und sprach mit Wolfgang Ernst, Währungs- und Anleihenanalyst bei der Raiffeisenbank International AG in Wien.
finanzwelt: Nach langem Zögern hat Ungarn nun Gesprächsbereitschaft signalisiert und setzt sich mit Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) an einen Tisch. Besser spät als nie?
Ernst: Unserer Meinung nach wäre die aktuelle Situation durchaus vermeidbar gewesen. Die ungarische Regierung hat offensichtlich die Auswirkungen der zuletzt getätigten "unkonventionellen Maßnahmen" (unter anderem den Central Bank Act, der die Unabhängigkeit der Zentralbank untergraben könnte) unterschätzt. In einem fragilen Umfeld auf den globalen Märkten und den europäischen Anleihenmärkten führte dies zu dramatischen Effekten. Emissionen ungarischer Staatsanleihen mussten entweder abgesagt oder zu extrem hohen Renditen platziert werden. Es ist offensichtlich, dass die aktuelle Situation für Ungarn auf längere Sicht nicht tragfähig ist. Nun geht es um Schadensbegrenzung und Wiederaufbau von Vertrauen, was unserer Meinung nach nur über eine Kreditvereinbarung mit dem IWF sowie der EU geschehen kann.
finanzwelt: Welche Anstrengungen muss die ungarische Regierung kurz- und mittelfristig unternehmen, um die Talsohle zu durchschreiten (Wirtschaftsleistung könnte 2012 um 1,5% schrumpfen)?
Ernst: Die Regierung hat bereits mit dem Széll-Kálmán-Plan einige notwendige Reformen gestartet. Unserer Ansicht nach liegt sowohl im Gesundheitsbereich, den Gemeinden sowie im öffentlichen Sektor noch Sparpotenzial. Zusätzlich rechnen wir 2012 mit Steuererhöhungen und damit, dass die Regierung versuchen wird die noch etwa 100.000 privat Pensionsversicherten in die staatliche Pensionsvorsorge zu holen. Dies dürfte 2012 noch einmal etwa HUF 230 Mrd. in die Staatskassen spülen. Insgesamt erwarten wir damit ein Budgetdefizit 2012 von etwa 3,5 % des BIP.
finanzwelt: Droht noch eine Verschärfung der Lage und könnten gegebenenfalls auch weitere osteuropäische Staaten in Bredouille geraten?
Ernst: Wir gehen davon aus, dass die ungarische Regierung die notwendigen Zugeständnisse an den IWF machen wird, um eine Kreditvereinbarung zu bekommen. Allerdings wird der IWF sehr strenge wirtschaftspolitische Auflagen daran knüpfen, welche weitere unkonventionelle Maßnahmen durch die ungarische Regierung unmöglich machen. Die Verhandlungen dürften sich als schwierig erweisen und entsprechend lange dauern. Wir gehen jedoch von einer Einigung noch im ersten Quartal 2012 aus. Damit sollte dann einiges an Unsicherheit und Risiko ausgepreist werden.
finanzwelt: Wie sollte sich der potenzielle Investor/Anleger verhalten?
Ernst: Wir würden aktuell zur Ruhe raten, da derzeit im Zusammenhang mit Ungarn auch viel Überreaktion im Spiel ist. Wir meinen sogar, dass man diese Schwächeperioden wie zuletzt, als 10-jährige Renditen knapp an die 11 % heranreichten und der Forint bei über 320 zum Euro stand, als Kaufgelegenheit auf Sicht von 12-18 Monaten nutzen kann. Zwar sollte man sich bewusst sein, dass es immer wieder zu Phasen erhöhter Volatilität kommen kann, aber wir rechnen aufgrund des Drucks durch EU und IWF mit einer höheren Berechenbarkeit und Kontinuität der politischen Entscheidungen. Gepaart mit einer nachhaltigen Budgetpolitik und einer Wachstumsverbesserung in der zweiten Jahreshälfte 2012 sollte dies zu einer Normalisierung beitragen.
Das Interview führte Alexander Heftrich