Weitere Stellungnahmen zur EZB-Leitzinssenkung

07.06.2024

EZB-Chefin Christine Lagarde. Foto: Europäisches Parlament

Die finanzwelt-Redaktion hat zahlreiche Kommentare zur Leitzinssenkung der EZB am 6. Juni 2024 erhalten. Hier eine weitere Auswahl von Stimmen aus der Branche.

„Die Entscheidung, den europäischen Leitzins zu senken, ist getroffen – sie kommt wenig überraschend und war seit Wochen, wenn nicht sogar schon seit Monaten, absehbar. Veränderungen am Leitzins haben in erster Linie Einfluss auf kurzfristige Zinsen, wie die von Ratenkrediten oder Termineinlagen; aber auch Anlageprodukte und Baufinanzierungen werden davon beeinflusst. 

Der Finanzmarkt orientiert sich vor allem an Wirtschaftsdaten. Und so hat die sinkende Inflationsrate in den vergangenen Wochen bereits Einfluss auf das Zinsumfeld genommen. Das „Hoch“ der Baufinanzierungszinsen ist passé. Auch die Verzinsung von Einlagenprodukte hat sich angepasst und die attraktiven Angebote für Tages- oder Festgeldanlagen sind größtenteils zurückgefahren worden. Unabhängig davon und auch ungeachtet der jüngsten Leitzinssenkung der EZB, ist die Verzinsung für klassische Spareinlagen wie dem Tagesgeld, dem Festgeld oder gar dem Sparbuch ohnehin nicht dafür geeignet, um den Auswirkungen der Inflation langfristig etwas entgegenzusetzen. Dafür bedarf es einer komplexen und vielschichten Anlagestrategie, die durch aktienbasierte Anlageformen punktet.

Gerade in den Bereichen der Altersvorsorge und des Vermögensaufbaus sollte man sich von den Geschehnissen und kurzfristigen Entwicklungen am Kapitalmarkt nicht beeindrucken oder beeinflussen lassen. Hier entscheidet nicht der Zeitpunkt, sondern der Zeitraum! Die Finanzcoaches der Deutschen Vermögensberatung haben das ihren Kundinnen und Kunden in der langanhaltenden Niedrigzinsphase zu Recht immer wieder aufgezeigt: Wer einen langen Anlagehorizont wählt und bei der Altersvorsorge oder dem Vermögensaufbau vor allem auf Investmentfonds setzt, der kann das Geschehen an den Märkten aufmerksam aber entspannt verfolgen. So also auch die neueste Zinsentscheidung. Umso besser, dass die Deutschen, die lange Zeit als die größten Fans des Sparbuchs galten, mittlerweile immer mehr in Fonds und Aktien investieren. Das ist ein großer Erfolg und unterstreicht abermals die Bedeutung einer guten und kompetenten Beratung.“

Deutsche Vermögensberatung Gruppe DVAG

„Sie hat es tatsächlich getan: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erstmals seit 2019 wieder die Leitzinsen gesenkt. EZB-Chefin Christine Lagarde dreht die Zinsschraube wie erwartet um 25 Basispunkte auf ein Zinsniveau von 4,25 Prozent nach unten. Der Schritt war im Vorfeld erwartet worden. Vorausgegangen war ein intensiver Straffungszyklus.  Historische zehn Mal in Folge hatte die EZB zuvor zwischen Frühjahr 2022 und Herbst 2023 an der Zinsschraube gedreht.

Ob damit – und in welchem Tempo – ein neuer Zinssenkungszyklus eingeläutet wurde, erscheint derzeit noch offen. Aktuell gehen die Märkte bis zum Jahresende von maximal zwei weiteren Zinssenkungen um jeweils 25 Basispunkte aus. Tatsächlich gibt es fundamental wenig zwingende Gründe für schnelle Zinssenkungen. Erstmals in diesem Jahr legte die Inflation zuletzt nämlich wieder zu. So kletterte die Inflationsrate im Mai in der Eurozone wieder von 2,4 auf 2,6 Prozent und in der Bundesrepublik von 2,2 auf 2,4 Prozent. Das von der EZB ausgegebene Ziel einer Teuerungsrate von 2 Prozent könnte nach Einschätzung des ifo-Instituts dennoch bereits im Sommer in Reichweite rücken. 

Insgesamt wirkt die Konjunktur weiter wie gelähmt: So rechnet die EU-Kommission 2024 in der Bundesrepublik lediglich mit einem Marginalwachstum von 0,1 Prozent und im Euro-raum mit immerhin 0,8 Prozent. Eine weiter schwächelnde Konjunktur würde die Notwendigkeit von Zinssenkungen erhöhen.

Anleger haben seit Jahresbeginn damit begonnen, diese Wahrscheinlichkeiten am Bond-Markt einzupreisen: Die Renditen zehnjähriger deutscher Staatsanleihen haben sich zu-letzt wieder deutlich auf ein Niveau von über 2,5 Prozent verteuert. Synchron dazu haben sich die Bauzinsen entwickelt, die zu Jahresbeginn kurzfristig ein Niveau von unter 3 Pro-zent erreicht hatten. In den vergangenen Monaten zogen die Hypothekenzinsen indes analog zum Bond-Markt wieder leicht an: Die besten Konditionen liegen aktuell bei 3,10 Prozent.

Für Immobilienanwärter zeigt sich damit einmal mehr, dass sich Zinsspekulation nicht lohnt. Wer zu Jahresbeginn in der Hoffnung auf weiter fallende Zinsen mit einem Haus- oder Wohnungskauf gezögert hatte, hätte abermals eine gute Einstiegsmöglichkeit verpasst. Die Hoffnung auf die Rückkehr eines Bauzinsniveaus zwischen ein und zwei Prozent ist illusorisch. Immobilieninteressenten sollten mit ihrem Kaufvorhaben daher nicht länger warten – die Talsohle bei den Immobilienpreisen scheint seit einigen Quartalen durchschritten. Der beste Augenblick, um sich den Traum von den eigenen vier Wänden zu erfüllen, ist jetzt.“

Oliver Kohnen, Geschäftsführer der Baufi24 Baufinanzierung GmbH

„Wie erwartet hat die EZB die Zinsen zum ersten Mal seit fünf Jahren um 25 Basispunkte gesenkt. Sie hat damit einen Zinssenkungszyklus eingeleitet, der zu neutralen Zinssätzen führen wird, die bei etwa 2 Prozent liegen dürften. Es wird ein langsamer Zinssenkungszyklus sein, der von den Daten abhängt, sich aber beschleunigen könnte, wenn die Daten schwächer werden. Die EZB prognostiziert weiterhin eine Inflation von 1,9 % im Jahr 2026, wenn die Zinssenkungen ihre Wirkung entfalten. Dies scheint ein sehr vorsichtiger Ansatz zu sein und steht im Einklang mit unserer Einschätzung, dass die EZB die Zinsen nicht schnell senken und erst nach einiger Zeit zu einer akkommodierenden Geldpolitik übergehen wird. Dies ist gut für den europäischen Anleihenmarkt, da es sicherstellt, dass sich die Inflation wieder dem Zielwert nähert und gleichzeitig die europäische Wirtschaft unterstützt.

Der Markt reagierte enttäuscht, aber wir sehen dies als eine weitere Gelegenheit für Anleger, ihre strategischen Anleihepositionen aufzustocken. Der Anleihemarkt wird ebenso wie die EZB datenabhängig bleiben, was Anlegern, die aktiv in den Anleihemarkt investieren, Chancen bietet.“

David Zahn, Head of European Fixed Income bei Franklin Templeton und Michael Browne, CIO bei Martin Currie, Teil von Franklin Templeton

„Die Währungshüter haben ihren Worten Taten folgen lassen und heute die Leitzinswende vollzogen. Angesichts der anhaltend hohen Inflation – bedingt durch teils kräftiges Lohnwachstum und der jüngst wieder anziehenden Nachfrage – lässt die Zinssenkung der EZB aber Raum für Kritik offen. Wir rechnen in den kommenden Monaten nicht mit einem aggressiven Zinssenkungskurs, da die Teuerung noch nicht besiegt ist. Rückschläge bei der Annäherung an die Zielmarke von zwei Prozent müssen weiter einkalkuliert werden. Besonderes Augenmerk richten die Notenbank-Oberen deshalb auf die Lohnentwicklung im Euroraum. Ein ausgeprägter Lohndruck könnte vor allem die Preise im Dienstleistungssektor nach oben treiben. Die EZB dürfte den weiteren Lockerungspfad deshalb mit Vorsicht beschreiten. Dies spiegelt sich auch im geldpolitischen Statement wider, wonach die weitere Adjustierung des Notenbank-Kurses von der Datenlage abhängt. Wir erwarten eine weitere Lockerung der Zinszügel im September und Dezember. Zum Jahresende dürfte der Einlagensatz dann bei 3,25 Prozent liegen.“

Christian Reicherter, Zinsanalyst der DZ BANK

„Weltweit wollen die Notenbanken den Fuß vom geldpolitischen Bremspedal nehmen. Nach den Notenbanken der Schweiz, Schwedens und Kanadas folgte heute die EZB. Unterschiede im Konjunktur- und Inflationszyklus ermöglichten eine erste Leitzinssenkung noch vor der US-Fed.ngshüter haben ihren Worten Taten folgen lassen und heute die Leitzinswende vollzog. Wie von uns erwartet, legte sich die EZB auf keinen Zinssenkungspfad fest. Ihre Datenabhängigkeit bleibt groß. Gleichzeitig deutet die Aufwärtsrevision der Inflationsprognosen besonders für 2025 daraufhin, dass es nun doch länger dauern könnte, bis das Inflationsziel erreicht ist. Diese Aussage ist deutlich restriktiver als erwartet und legt weiter nur sehr graduelle Zinssenkungen nahe. Wir rechnen mit einer Pause im Juli und weiteren Zinssenkungen im September und Dezember.“

Ulrike Kastens, Volkswirtin Europa, DWS Group

„Wie allgemein erwartet, hat der EZB-Rat auf seiner heutigen Sitzung den Zinssatz für die Einlagefazilität um 25 Basispunkte auf 3,75 Prozent gesenkt. Der Schritt wurde deutlich signalisiert, und die Märkte konzentrieren sich nun auf Hinweise zur Anzahl und den Zeitpunkten weiterer Zinssenkungen bis zum Jahresende. Präsidentin Lagarde wird ein Gleichgewicht anstreben, das die übermäßigen Zinssenkungserwartungen, die zu Beginn des Jahres zu beobachten waren, abschwächt, aber auch den anhaltend restriktiven politischen Kurs und die Übertragungseffekte anerkennt.

Obwohl die Inflationserwartungen nach wie vor recht fest verankert sind, waren die jüngsten harten Daten nicht gerade hilfreich für diejenigen, die eine eher dovishe Überzeugung vertreten - frühe Schätzungen für den Monat Mai zeigten, dass die Inflation stärker anstieg als von den Märkten erwartet. Zugegebenermaßen handelt es sich hierbei nur um einen einzigen Datenpunkt, der den allgemeinen Kurs der Zentralbank nicht in Frage stellen wird. Dennoch erinnert es die Märkte daran, dass die letzte Etappe der Inflationsbekämpfung die schwierigste sein kann - die Inflation der Dienstleistungspreise liegt immer noch bei einer Jahresrate von knapp über vier Prozent.

Die EZB möchte mehr Vertrauen haben, dass sich die Inflation nachhaltig dem Zielwert annähert, wenn sie mit Zinssenkungen beginnt. Es könnte etwas länger dauern, bis dieses Vertrauen so weit gestiegen ist, dass sie die Politik weiter lockern kann. Die jüngsten makroökonomischen Prognosen der EZB werden ebenfalls heute veröffentlicht und werden genau auf wesentliche Änderungen der wichtigsten Projektionen hin überprüft. In den kommenden Monaten könnten wir in eine Wartephase eintreten, aber wir rechnen mit einer weiteren Lockerung der Geldpolitik bis zum Jahresende, vorausgesetzt, der Disinflationstrend hält wie erwartet an.“

Des Lawrence, Senior Investment Strategist bei State Street Global Advisors

„Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erwartungsgemäß auf die seit Herbst letzten Jahres deutlich gesunkenen Inflationsrisiken reagiert. Die Leitzinsen wurden leicht gesenkt. Sie bleiben aber auf einem Niveau, das die Konjunktur weiterhin dämpft. 

Das ist gut so, denn die europäischen Währungshüter sind bei der Bekämpfung der Inflationsgefahren noch lange nicht am Ziel. Preistreiber bleiben die überdurchschnittlich steigenden Löhne im Dienstleistungssektor. Und perspektivisch könnte auch ein fallender Euro-Wechselkurs für steigende Inflation sorgen.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die EZB erst gar nicht die Erwartung einer dichten Abfolge von Zinssenkungen aufkommen lasse. Es gibt keinen Autopiloten für weitere Zinssenkungen. Für die nächsten EZB-Sitzungen muss gelten, dass weitere Schritte nur möglich sind, wenn erkennbar die Inflationsrisiken weiter zurückgehen. Dies gilt insbesondere für die Ratssitzung im September, auch wenn die Mehrheit der Marktteilnehmer derzeit dort die nächste Zinssenkung erwartet.

Unabhängig davon muss gerade in Deutschland vor überzogenen Konjunkturhoffnungen durch Zinssenkungen gewarnt werden Hierzulande belasten seit geraumer Zeit strukturelle Investitions- und Standortprobleme das Wirtschaftswachstum. Diese Bremsfaktoren lassen sich nicht allein durch die EZB und Leitzinssenkungen beseitigen. Vielmehr muss die Wirtschaftspolitik klar die Vorfahrt für Investitionen regeln.“

Heiner Herkenhoff, Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes

„Die EZB hat heute den Leitzins um 25 Basispunkte gesenkt. Die Notenbank gibt zu, dass die Inflation zuletzt überraschend gestiegen ist und wiederholt ihre Aussage, dass der Weg zurück zur Preisstabilität holprig sei. Auf kurze Sicht hat die EZB die Wachstums- und Inflationsprognosen angehoben, geht aber von unveränderten Zahlen für 2025 und 2026 aus. Das deutet darauf hin, dass der disinflationäre Trend anhält, die Wahrscheinlichkeit direkt aufeinanderfolgender Zinssenkungen jedoch gering ist.

Seit den makroökonomischen Prognosen vom März haben sich mehrere Indikatoren anders als erwartet entwickelt:

  1. Die Kerninflation nach oben hat die EZB überrascht. Die Steigerung beträgt 0,1 Prozentpunkte im 1. Quartal und wahrscheinlich 0,2-0,3 Prozentpunkte im 2. Quartal.
  2. Das Wirtschaftswachstum hat im 1. Quartal mit einer Steigerung um 0,2 Prozentpunkte positiv überrascht. Dabei haben die Einkaufsmanagerindizes einen stärkeren Wachstumsimpuls angezeigt, als zum Zeitpunkt der letzten Prognose erwartet worden war. Außerdem gab es kaum Anzeichen für eine Schwäche auf dem Arbeitsmarkt.
  3. Das Niveau der ausgehandelten Löhne hat gegenüber den im März erwarteten Werten leicht um etwa 0,2 Prozentpunkte angezogen. Dieser Trend dürfte sich bis August fortsetzen, auch weil die Löhne in Deutschland im 2. Quartal steigen werden.

Das sind also gleich drei Überraschungen, die alle in dieselbe Richtung gehen. Dies hat zwar nicht ausgereicht, um die heutige Zinsentscheidung zu revidieren, die offenbar schon seit einiger Zeit feststand – und eine Umkehr hätte wie ein Fehler in der Kommunikation ausgesehen. Die Überraschungen reichen zudem auch nicht aus, um von der Meinung abzurücken, dass der disinflationäre Trend anhält. Die aktuellen Daten stärken aber die Argumente der EZB, eine vorsichtige Vorgehensweise zu wählen – und die Vorstellung, dass auf die heutige Zinssenkung eine weitere im Juli folgen wird, wird damit wohl ad acta gelegt werden. Vielmehr dürften die Prognosesitzungen im September, Dezember und März die wahrscheinlicheren Termine für weitere geldpolitische Anpassungen sein.

Die Debatte über den neutralen Zinssatz wird innerhalb der EZB immer hitziger. Isabel Schnabel hat in letzter Zeit dafür plädiert, dass der derzeitige geldpolitische Kurs nicht so restriktiv sein sollte, und argumentiert, dass der neutrale Zinssatz aufgrund der Energiewende und des digitalen Wandels jetzt viel höher sein könnte. Diese Ansicht wurde allerdings von anderen Ratsmitgliedern zurückgewiesen. Viele sind offenbar der Meinung, dass das derzeitige Zinsniveau nicht mehr angemessen ist, da die Inflationsrisiken nachlassen.“

Simon Bell, Fondsmanager Active Fixed Income, Legal & General Investment Management (LGIM)

„Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) Christine Lagarde und zahlreiche Ausschussmitglieder hatten eine erste Zinssenkung in den vorangegangenen Wochen bereits angekündigt und nahmen diese heute erwartungsgemäß vor. Auch wenn es laut der Notenbank Fortschritte gäbe, hoben die Währungshüter ihre Wachstums- und Inflationsprognosen geringfügig an und wiesen darauf hin, dass der Preisdruck „stark“ und die Löhne „erhöht“ seien. Damit hält sich die EZB die Tür für eine weiterhin „deutlich“ restriktive Geldpolitik offen, falls dies erforderlich sein sollte – auch wenn sie eine extrem lockere Geldpolitik angedeutet hat. Obwohl die Löhne ein verzögerter Indikator für die Inflation sind, wollen einige Ausschussmitglieder hier deutliche Fortschritte sehen, bevor sie weitere Zinsanpassungen befürworten. Wieder andere wollen vorerst abwarten, bis die Federal Reserve (Fed) wieder zu einer gemäßigteren Geldpolitik zurückkehrt, bevor sie selbst weitere Maßnahmen treffen.“

Dave Chappell, Senior Fund Manager Fixed Income bei Columbia Threadneedle Investments

Dass die Europäische Zentralbank die Leitzinsen um 25 Basispunkte senken würde, darauf hatte sie den Markt in den vergangenen Wochen entsprechend vorbereitet und heute nun Fakten geschaffen. In der anschließenden Pressekonferenz hat Christine Lagarde allerdings auf die Kommunikation eines klar definierten Kurses verzichtet und somit auch keine Hinweise auf eine nächste Zinssenkung gegeben. Die Notenbank ist sich unsicher, wie restriktiv ihre Geldpolitik wirklich ist und ob der neutrale Zins möglicherweise deutlich höher als vor der Corona-Pandemie liegen könnte. Die Diskussion um den neutralen Gleichgewichtszins hat damit nun auch die EZB voll erfasst. Der überraschende Anstieg der Kerninflationsrate im Mai auf 2,9 Prozent dürfte diese Verunsicherung nicht nur weiter geschürt haben, sondern auch für die Anhebung der EZB-Inflationsprognose für 2024 und 2025 mitverantwortlich gewesen sein. Leitzinsen in einem Jahr 100 Basispunkte tiefer Aus unserer Sicht bleibt es allerdings dabei, dass die Argumente für einen deutlich höheren neutralen Zins in Europa wenig überzeugend sind. Im Gegensatz zu den USA sprechen hier weder die Demographie noch ein stärkeres Produktivitätswachstum für diese These. Auch die Investitionsoffensive zum klimaneutralen Umbau der Wirtschaft der EZB kann als Argument dafür nur wenig herhalten, da den potenziell höheren staatlichen Investitionen ein weiterer Rückgang privater Investitionen und damit eine sich fortsetzende Zersetzung des Produktionspotenzial entgegenstehen. Somit besteht in dem heute gestarteten Zyklus ein hohes Potenzial für weitere Zinssenkungen, während die Markterwartungen in diesem Punkt zu vorsichtig sind. In einem Jahr sollten die Leitzinsen in der Eurozone mindestens 100 Basispunkte tiefer liegen als heute. Europäische Aktien bleiben attraktiv Für die laufende Rally am Aktienmarkt sind dies alles gute Argumente. Der Rückenwind von der Zinsseite sichert die ohnehin nicht hohen Bewertungen ab und die Aktien profitieren von robusten Unternehmensgewinnen aufgrund eines hohen nominalen Wirtschaftswachstums. Zudem stützen die jüngst wieder gefallenen Energiepreise. Europas Börsen befinden sich in einem taktischen ‚Sweet-Spot‘ und sollten Investoren auch in den nächsten Wochen eine attraktive Rendite bieten. Für den Deutschen Aktienindex spricht derzeit allerdings weniger die intakte Wachstumsstory der deutschen Wirtschaft, sondern stattdessen seine internationale Ausrichtung. 

Dr. Eckhard Schulte, Vorstandsvorsitzender MainSky Asset Management

Kommende Woche richten sich am Mittwoch alle Augen erst auf die US-Inflationszahlen für Mai und abends dann auf News der Fed-Sitzung: „Die noch zu hohe US-Inflation verhindert wohl für ein paar weitere Monate die erste Fed-Leitzinssenkung“, sagt Robert Greil. Der Chefstratege von Merck Finck hält es für unwahrscheinlich, dass der gestrigen EZB-Zinssenkung noch vor der Sommerpause ein entsprechender Fed-Schritt folgt. Greil: „Hierfür müsste wohl auch die Inflation in den USA wie in Europa unter 3% sinken – stattdessen dürfte sie bei rund dreieinhalb Prozent verharren“. Dennoch rechnet er auch in den USA bald mit Bewegung: „Wichtige Frühindikatoren deuten auch in den USA auf einen insgesamt rückläufigen Inflationstrend hin – damit sollte ab September auch die erste Fed-Zinssenkung bald Realität werden.“

Weitere wichtige US-Konjunkturdaten sind nächste Woche die Produzentenpreise für Mai am Mittwoch sowie das Michigan-Verbrauchervertrauen am Freitag bereits für Juni. In China stehen am Mittwoch ebenfalls Inflations- und Produzentenpreisdaten für Mai auf der Agenda (letztere an diesem Tag auch für Japan). In Japan kommt darüber hin-aus am Montag das finale Bruttoinlandsprodukt für das Startquartal 2024 und am Freitag tagt dort auch noch die Notenbank.

In Europa kommt nur eine überschaubare Menge an neuen Daten: In Deutschland die finalen Mai-Inflationszahlen am Mittwoch, für den gesamten Euroraum die Industrieproduktion im April am Dienstag sowie die zugehörige Handelsbilanz am Freitag und in Großbritannien am Dienstag der Arbeitsmarktbericht sowie am Freitag das April-Bruttoinlandsprodukt. 

Robert Greil. Der Chefstratege von Merck Finck

Höheren Inflationserwartungen zum Trotz ist die Europäische Zentralbank (EZB) dem „Club der Zinssenkungen“ beigetreten und hat die Zinsen um 25 Basispunkte auf 3,75 Prozent gesenkt. Sie ist die vierte Bank unter den G10, die ihren Lockerungszyklus einleitet – nach der Schweizer Notenbank (SNB), Schwedens Riksbank und der Bank of Canada. Mit diesem Schritt kommt die EZB der US-Notenbank (Fed) zuvor – ein großer Unterschied zu der Vorgehensweise in der Vergangenheit. Die Fed dagegen scheint mehr Geduld zu haben und wartet auf überzeugendere Daten, die darauf hindeuten, dass sich die Inflation ihrem Ziel nähert. Fed-Chef Jerome Powell dürfte nächste Woche bekräftigen, dass die Geldpolitik ausreichend restriktiv ist und mehr Zeit benötigt, um zu wirken. Es gibt jedoch positive Anzeichen: Die Wirtschaftstätigkeit scheint sich zu verlangsamen und die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt lassen nach.  

Übermäßige Freude ist jedoch verfrüht: EZB-Vorsitzende Christine Lagarde möchte sich nicht auf weitere Zinssenkungen festlegen. Wie die anderen Zentralbanken verfolgt sie einen schrittweisen und vorsichtigen Ansatz und wird die Situation von Treffen zu Treffen neu bewerten. Die Inflationsdaten werden das Tempo und den Zeitpunkt der nächsten Zinsschritte bestimmen. Dennoch erwarten wir zwei weitere Zinssenkungen vor Jahresende, beginnend im September, denn die vorübergehenden Inflationseffekte im Dienstleistungssektor dürften verschwinden.

Gleichzeitig hat die EZB die Inflationsprognose für 2024 und 2025 angehoben. Das deutet darauf hin, dass diese erste Zinssenkung möglicherweise nicht den Beginn eines anhaltenden Lockerungszyklus signalisiert. Im Gegenteil: Die neue Prognose bleibt vorsichtig und vermeidet eine klare Richtung für zukünftige Maßnahmen.

Diese erste Zinssenkung könnte angesichts des günstigen makroökonomischen Hintergrunds auch weiterhin europäische Aktien, insbesondere Small- und Mid-Caps, stützen.

Nicolas Forest, CIO bei Candriam