Soziale Nachhaltigkeit in der Versicherungsbranche
04.07.2024
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Das Thema ESG spielt bei Versicherungen seit längerem eine zentrale Rolle. Allerdings steht die soziale Nachhaltigkeit – das „S“ in ESG – im Vergleich zur ökologischen Dimension eher noch am Anfang. Bei sozialer Nachhaltigkeit geht es um Diversität, Work-Life-Balance und die Gesundheit der Mitarbeitenden.
„Auch in der Produktgestaltung, besonders in der Lebensversicherung, sind soziale Aspekte von Bedeutung. Dazu zählen etwa strenge Vorgaben zur Einhaltung von Menschenrechten bei Investments“, erklärt Nachhaltigkeits-Expertin Maria Leisinger vom Center for Sustainable Insurance (CSI) der Versicherungsforen Leipzig. Hinzu kommt die soziale Infrastruktur als Anlageklasse bei der Kapitalanlage, die sowohl im Sicherungsvermögen als auch auf der Produktseite, vor allem bei Fondspolicen, zum Einsatz kommen kann. Doch welche Beispiele für sozial nachhaltige Produkte gibt es bereits? Welche Vision verfolgt die Branche? Diesen und weiteren Fragen ging eine Expertenrunde der Versicherungsforen Leipzig Ende Mai auf den Grund, moderiert von Maria Leisinger und Eva-Maria Ringel vom CSI. Hier die zentralen Aussagen der Panelteilnehmer: Drei Vorstände von Versicherungsunternehmen sowie ein Experte aus der Wissenschaft. (mho)
Christoph Bohn, Vorsitzender der Vorstände, ALH Gruppe:
Soziale Nachhaltigkeit betrifft den Kern unseres Geschäfts. Zum einen, weil unsere Produkte schon per se auf soziale Nachhaltigkeitsziele ausgerichtet sind: Eine lebenslange Rente schützt vor Altersarmut, Arbeitskraftabsicherung und Privathaftplicht sichern die finanzielle Existenz und die private Krankenversicherung stellt generationengerecht finanzierte medizinische Versorgung sicher. Zum anderen integrieren wir seit Jahren Aspekte sozialer Nachhaltigkeit aktiv in unserer Produktgestaltung: Beitragsfreistellungen bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit in der Berufsunfähigkeitsversicherung oder spezielle PKV-Tarifoptionen bei sozialer Hilfebedürftigkeit sind nur einige Beispiele. Auch durch Investitionen in soziale Infrastruktur leisten unsere Kapitalanlagen schon heute einen Beitrag für die soziale Nachhaltigkeit. Unser Engagement geht noch viel weiter. Doch die Frage ist, wie wir es nach außen zeigen können. Noch fehlt es an verbindlichen Kennzahlen und standardisierten, zuverlässigen Daten, um soziale Nachhaltigkeit messbar zu machen. Von einer sozialen Taxonomie erhoffen wir uns klare Vorgaben ohne überbordende bürokratische Anforderungen.
Martin Gräfer, Mitglied des Vorstands, die Bayerische:
Grün, grün, grün sind alle meine Policen? Der Faktor Nachhaltigkeit hat sich vom Statisten zum Hauptdarsteller gewandelt. Aber mal unter uns: Nachhaltig, ESG, grün… was heißt das in unserer Branche überhaupt? Nachhaltigkeit bedeutet für uns weder nur „Öko“ noch Verzicht – nicht Degrowth oder andere ideologische Konzepte. Unsere Nachhaltigkeit ist blau statt grün. Ein Werbe-Label? Nein, denn blaue Nachhaltigkeit steht für Wachstum statt Verzicht, Innovation statt Moralismus, Optimismus statt Weltuntergangsrhetorik und nicht zuletzt: Ganzheitlichkeit. Die Vereinigung von ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten. Sozial sind in der Altersvorsorge Rendite und Stabilität. Das sind die zwei wesentlichen Hebel, um der drohenden demografischen Renten-Sackgasse ein Schnippchen zu schlagen – und Millionen Bürger vor der drohenden Altersarmut zu bewahren. Sozial sind auch unsere Investments, mit denen Pangaea Life Rendite gegen Altersarmut erwirtschaftet. Mit unserem Sachwerte-Fonds „Blue Living“ beispielsweise bauen wir Jahr für Jahr energieeffizienten und sozialpositiven Wohnraum. Gehen wir gemeinsam voran!
Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Bayreuth:
Wir stehen am Beginn einer Ära, in der soziale Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnt. Themen wie Gesundheit und Armutsbekämpfung rücken in den Fokus. Der hippokratische Eid lehrt: „Primum nil nocere, bonum facere“ – zunächst keinen Schaden verursachen, dann Gutes tun. Diese Maxime sollte auch in der Versicherungswirtschaft gelten. Lange konzentrierte sich die Branche vorrangig auf Schadenvermeidung. Es ist Zeit, das positive Potenzial zu erkennen und zu nutzen. Arbeitgeberleistungen, die zeigen, dass Unternehmen soziale Verantwortung ernst nehmen, sind ein erster Schritt. Mit der anstehenden Berichtspflicht kann dieses Engagement sichtbar gemacht werden und so soziale Resilienz fördern. Die Branche hat die Chance, das Image der Finanzwelt grundlegend zu wandeln, indem sie ihr Geschäftsmodell neu ausrichtet: mit neuen Narrativen in der Produktentwicklung, im Marketing und Vertrieb. Versicherungen sind mehr als nur Risikobewerter; sie sind soziale Stabilisatoren in einer ungewissen Welt. Der hippokratische Eid dient Ärzten als Leitlinie für ihr Arbeiten. Auch für die Versicherungen bedeutet er, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen. Das erfordert authentisches Engagement, innovative Produkte und engagierte Mitarbeitende.
Björn Bohnhoff, Vorstand Leben, Zurich Gruppe Deutschland:
Wir nutzen unsere Hebel in unseren vier Rollen als Unternehmen und Arbeitgeber, Investor und Berater, Versicherer und Risikomanager sowie als Teil der Gesellschaft, um die Transformation zu einer Netto-Null-Wirtschaft zu unterstützen und die Resilienz unseres Unternehmens und unserer Gesellschaft zu stärken – und zwar in allen Dimensionen der Nachhaltigkeit. Es ist uns wichtig, dass Ökologie und Ökonomie zusammen gedacht werden. Die Interessen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das dringendste Handlungsfeld bleibt aus unserer Sicht die Bekämpfung der Erderwärmung sowie verstärkte Maßnahmen zur Klimafolgenanpassung. Aktiver Klimaschutz kann aber nur gelingen, wenn wir auch sozialen Ungleichgewichten entschlossen entgegentreten – sowohl im großen globalen Kontext als auch bei uns vor Ort. Soziale Verantwortung beginnt bei uns als Arbeitgeber, geht über Investitionen in gesellschaftlich relevante Projekte bis hin zur Unterstützung konkreter Institutionen in ihrer sozialen Arbeit. Nur gemeinsam haben wir die Kraft, etwas zu bewirken.