Mehrheit stimmt für EU-Austritt

23.06.2016

Großbritannien am Wendepunkt: Investoren müssen sich für Rückschläge in Politik, Wirtschaft und an den Finanzmärkten wappnen.

Was vielen vor wenigen Wochen noch undenkbar erschien, ist nun geschehen: Die Mehrheit der Briten hat sich im Referendum für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) ausgesprochen. Nach 43 Jahren steht das Land damit vor dem Ende der EU-Mitgliedschaft. Technisch gesprochen ist bislang noch nichts geschehen: Großbritannien ist nach wie vor EU-Mitglied und wird dies voraussichtlich auch noch für mindestens zwei Jahre bleiben, wenn nicht sogar noch länger. Gleichwohl ändert diese Volksbefragung in vielerlei Hinsicht vieles: Das „Nein“ zur EU stellt einen entscheidenden Wendepunkt dar:

  • zum ersten Mal in der Geschichte der EU hat die Bevölkerung eines Landes sich für eine Beendigung der Mitgliedschaft ausgesprochen.
  • es steht voraussichtlich eine langjährige Verhandlungsphase mit der EU an, in der Großbritannien mit seinem Haupthandelspartner eine Art Scheidungsvertrag aushandeln und seine Wirtschaftsbeziehungen mit der EU und der Welt auf eine neue Basis stellen muss. dies ist das bislang folgenreichste Beispiel für die weitreichenden Folgen, die eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment in einer westlichen Demokratie haben kann. Es ist zwar davon auszugehen, dass Großbritannien am Ende in der Lage sein wird, neue und beiderseitig produktive Wirtschaftsbeziehungen mit der EU und anderen Ländern aufzubauen.
  • Dies wird aber zweifelsohne viel an Zeit und Verhandlungsbemühungen erfordern. In der Übergangsphase wird Unsicherheit wie Mehltau auf Großbritannien liegen, mit noch nicht absehbaren ökonomischen Folgen. Politische Auswirkungen Die politischen Folgen der Volksentscheidung gegen die EU werden weitreichend und nachhaltig sein. Kurzfristig wird die politische Zukunft von Premierminister David Cameron im Rampenlicht stehen. Von größerer und langfristiger Bedeutung wird aber die Verhandlungsführung Großbritanniens für einen EU-Austritt sein.
Politische Auswirkungen

Die politischen Folgen der Volksentscheidung gegen die EU werden weitreichend und nachhaltig sein. Kurzfristig wird die politische Zukunft von Premierminister David Cameron im Rampenlicht stehen. Von größerer und langfristiger Bedeutung wird aber die Verhandlungsführung Großbritanniens für einen EU-Austritt sein. Auf welchen Gebieten wird das Land mit der EU und anderen Ländern Verhandlungen aufnehmen? Dies ist eine Mammutaufgabe, für die es weder eine Blaupause noch eine politische Vision gibt. Bemerkenswerterweise beruhte der Erfolg der „Brexit“-Kampagne nämlich in erster Linie darauf, was man verlassen wolle („Freiheit von“). Die viel wichtigere und verzwickte Frage, wodurch die EU ersetzt werden solle („Freiheit um“), wurde dagegen nicht thematisiert. Es wird daher einige Monate dauern und vielleicht sogar eine weitere Parlamentswahl benötigen, um klarer absehen zu können, wohin die Reise gehen wird. Während des möglichen Machtvakuums ist gut möglich, dass Forderungen über ein neues schottisches Unabhängigkeitsreferendum aufkommen. Viele Schotten dürften argumentieren, dass sie 2014 unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu gebracht wurden, für einen Verbleib im Vereinigten Königreich zu votieren. Gleichzeitig dürfte es erhöhte Unsicherheit über die Auswirkungen auf die EU – und das Projekt Europa insgesamt – geben. Die kommenden Wahlen versprechen daher viel an Spannung: Als erstes stehen Parlamentswahlen in Spanien an, danach im Herbst das Referendum zur italienischen Verfassungsreformen. Über den europäischen Tellerrand hinausschauend könnte die Entscheidung für den Brexit auch ein Vorbote dafür sein, was in den US-Präsidentschaftswahlen zu erwarten ist. Donald Trump hat in sehr starkem Maße populistisch argumentiert und sich damit die in einzelnen Wählerschichten vorherrschende Unzufriedenheit mit dem Washingtoner Establishment zunutze gemacht. In diesem Zusammenhang sei schließlich auch angemerkt, dass andere europäische Länder wie etwa Russland oder die Türkei versucht sein könnten, aus Europas Schwäche und Mangel an Zusammenhalt Vorteile zu ziehen

Auswirkungen auf die Finanzmärkte

Auswirkungen der Brexit-Entscheidung auf die Finanzmärkte sind bereits sichtbar: Das Britische Pfund ist gefallen, die Volatilität ist gestiegen und britische Aktien verzeichneten Kurseinbrüche. Möglicherweise werden diese Kursverluste zunächst nur kurzfristiger Natur sein, eine Gegenbewegung nach wenigen Tagen oder Wochen ist denkbar. Angesichts der beschriebenen Unsicherheitsphase müssen sich Investoren jedoch auf wiederholte Schwächeperioden einstellen. Zum Beispiel immer dann, wenn es ungünstige Wirtschaftsdaten oder politische Entwicklungen gibt. Einige in Großbritannien gelistete Unternehmen – etwa solche mit diversifizierten internationalen Einkommensströmen oder inländisch orientierte Firmen, die wenig von Importen abhängen – sollten mit einem derartigen Umfeld allerdings gut klar kommen können. Auf dem europäischen Kontinent dürfte es gleichzeitig zu einer Ausweitung der Zinsaufschläge an den Rentenmärkten kommen. Hiervon betroffen sind vor allem für Länder bzw. Emittenten aus der Euroland-Peripherie, die am stärksten anfällig für Ansteckungseffekte von der Brexit-Entscheidung sind. Generell gilt: Was schlecht für Aktien ist, ist auch schlecht für Spread- Produkte. Daher ist die Sorge wohlbegründet, dass sich der Ausgang des EU-Referendums allgemein negativ auf europäische Asset-Preise auswirkt, wenn das Investorenklima weltweit leidet.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Wenngleich die Brexit-Entscheidung keine unmittelbaren Handelsauswirkungen hat, wird sie sich während der Verhandlungsphase zweifelsohne belastend auf das Wirtschaftsaktivität sowohl in Großbritannien als auch in der EU auswirken. Es gibt Belege dafür, dass es bereits im Vorfeld des Referendums Auswirkungen auf Großbritannien gab, etwa indem Investitionspläne auf Eis gelegt wurden. Die Bank von England erwartet eine sogenannte technische Rezession, also mindestens zwei Quartale mit schrumpfender Wirtschaftsaktivität hintereinander, hat für den Notfall aber ihre Bereitschaft zum Gegenhalten bekundet. Britische Staatsanleihen dürften von dieser Bereitschaft profitieren.

Implikationen für Investoren

Angesichts der absehbaren politischen, wirtschaftlichen und Finanzmarkt-Auswirkungen müssen sich Investoren auf raue See einstellen. Für langfristig orientierte Anleger mit einem genügend Risikobudget sowie Handlungsspielraum für aktives Investieren bietet dies allerdings auch Chancen. Unserer Einschätzung nach tun Investoren in der aktuellen Situation gut daran, die sich ändernden politischen Gegebenheiten im Zusammenhang mit der finanziellen Repression genau im Auge zu behalten. Letztere war seit Ausbruch der Finanzkrise der stärkste marktbeeinflussende Faktor.

Ein Kommentar von Allianz Global Investors

www.allianzgi.com