Ist 2022 das richtige Jahr für den Immobilienkauf?

01.06.2022

Dr. Ilja Gop, Trendcity Geschäftsführer / Foto: © David Nassim

Selten zuvor war die deutsche Wirtschaft von so vielen Unwägbarkeiten geprägt wie aktuell. Die wichtigen deutschen Wirtschaftsinstitute haben in ihren aktuellen Frühjahrsgutachten ihre Prognosen von ursprünglich 4,8 auf 2,7 % gesenkt. Hinzu kommen die höchsten Teuerungsraten seit mehr als 40 Jahren: Das Statistische Bundesamt geht für April von einer Inflationsrate von 7,4 % im Jahresvergleich aus – wobei der Wert für den Bereich Energie bei unglaublichen 35,3 % liegt.

Diese Unsicherheiten sind inzwischen auch im Immobiliensegment spürbar. Unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Kriegs herrschte eine regelrechte Schockstarre auf den Märkten, auch in Berlin, dem wichtigsten und liquidesten Wohnimmobilienmarkt Deutschlands. Inzwischen steigt die Nachfrage wieder spürbar an, dennoch erleben wir aktuell, dass immer mehr Kaufinteressenten abwägen: Ist es auf Basis der aktuellen Situation überhaupt ratsam, noch in diesem Jahr in ein Eigenheim zu investieren oder eine vermietete Eigentumswohnung zu erwerben? Oder ist Abwarten nicht die „sichere“ Variante?

Dies hängt von mehreren Fragen ab, die jeder Kaufinteressent für sich selbst beantworten sollte.

Erste Frage: Was soll mit dem vorhandenen Kapital geschehen?

Die Einlagen auf dem Girokonto oder dem Sparbuch verlieren inflationsbedingt aktuell so schnell an realem Wert wie seit Generationen nicht mehr. Hinzu kommen Strafzinsen für größere und mittlere Vermögen, welche die Anlagen zusätzlich schrumpfen lassen. Selbst wenn die Leitzinsen und damit indirekt auch die Guthabenzinsen mittelfristig moderat steigen sollten, müssen Sparer Wertverluste hinnehmen: Im theoretischen Fall eines Guthabenzinses von zwei Prozent (wovon wir aktuell deutlich entfernt sind) sorgen Teuerungsraten von 7 bis 8 % für eine Entwertung von 5 bis 6 % des vorhandenen Vermögens pro Jahr.

Daher ist es sinnvoll, zumindest einen relevanten Teil seines Vermögens zu investieren. Die Aktienmärkte zeigen sich jedoch angesichts der wirtschaftlichen Unwägbarkeiten und vor allem aufgrund der möglichen Zinswende stark volatil. Große DAX-Aktien wie Volkswagen VZ oder selbst der Energiehändler E.ON handelten Stand Anfang Mai circa 38 % bzw. circa 20 % unterhalb ihres 52-Wochen-Hochs. Insbesondere für Anleger, die noch keine Erfahrungen mit Aktien gesammelt haben, ist die aktuelle Situation nicht unbedingt die beste für ein Engagement an der Börse.

Stattdessen kann es sich anbieten, jetzt das eigene Portfolio durch ein defensives Immobiliendirektinvestment abzusichern. „Defensiv“ bedeutet in diesem Fall, dass sich die Immobilie an einem etablierten Standort wie Berlin befinden und voll entwickelt sein sollte, sodass nicht in wenigen Jahren teure Modernisierungsausgaben fällig werden. In der Regel steigen bei inflationären Tendenzen nicht nur die Rohstoffpreise, sondern auch die Verkehrswerte von Wohnimmobilien. Für Kapitalanleger ist jedoch ein genauer Blick auf die Mietverträge wichtig: Besonders wenn eine Staffelmiete oder eine Form von Inflationsindexierung vertraglich festgelegt ist, generiert die Immobilie auch einen inflationsbereinigt konstanten Cashflow. Zugleich sorgt bei vermieteten Wohnungen der Mieterauszug normalerweise für erhebliche Wertsteigerungen.

Allerdings sollten Immobilien im Portfolio nicht übergewichtet werden, und wer bereits beispielsweise umfangreich in Immobilienfonds investiert ist, könnte durch ein Direktinvestment seine Immobilienquote zu stark in die Höhe treiben.

Zweite Frage: Wie schnell kann ich handeln?

Trotz der hohen Inflationsraten hält die EZB gegenwärtig an ihrer Nullzinspolitik fest. Der Euribor, also der durchschnittliche Zinssatz, zu dem Banken untereinander ihre Anleihen vergeben, ist für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten nach wie vor negativ. Trotz dieser Möglichkeit der günstigen Kapitalbeschaffung für die Banken selbst werden langfristige Baukredite schon jetzt deutlich teurer. Der Kreditvermittler Interhyp verzeichnet einem aktuellen Spiegel-Interview zufolge bereits eine Verdopplung der Konditionen seit Jahresbeginn – Kredite von bis zu 3 % sind keine Seltenheit mehr.

Diese Konditionen sind im historischen Vergleich nach wie vor sehr erschwinglich. Doch das Zeitfenster für günstige Baukredite schließt sich nach und nach – zumal sich bereits Warteschlangen bei den Finanzierern ergeben und Kreditanfragen nicht sofort bearbeitet werden können.

Drittens: Wie viel finanzieller Spielraum besteht?

Immobilien profitieren vor allem langfristig von verschiedenen demografischen und wirtschaftlichen Trends. Der Zuzug in die Metropolen und deren Speckgürtel ist ein wichtiger Faktor. Auch die zahlreichen Ukrainerinnen und Ukrainer, die langfristig in Deutschland bleiben wollen, fallen hierbei ins Gewicht. Besonders stark zeigt sich dieser Effekt in Berlin, da die Hauptstadt wegen der großen Communitys aus der Ukraine und Russland besonders beliebt ist. Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, rechnet Medienberichten zufolge mit bis zu 100.000 Neuankömmlingen. Gleichzeitig entstehen immer noch nicht genug Wohnungen, um die Nachfrage abzudecken. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage begünstigt also positive Preisentwicklungen.

Zudem hat sich die Robustheit des „Anlageprodukts Wohnimmobilie“ während Corona klar gezeigt. In Berlin ist der Investitionsbank Berlin zufolge der Quadratmeterkaufpreis im Jahresverlauf 2021 um ganze 8,9 % auf 5.416 Euro gestiegen.

Wer eine Wohnimmobilie als Kapitalanlage erwirbt, hat also gute Chancen auf eine langfristig positive Wertentwicklung, da es stets eine lange Liste an Mietinteressenten gibt. Umgekehrt jedoch sollten vermeintlich „günstige“ Angebote in Gebieten mit negativer Bevölkerungsentwicklung oder sinkender Kaufkraft von Kapitalanlegern eher gemieden werden.

Dennoch sollten sich Kaufinteressenten unbedingt die Frage stellen, wie viel finanziellen Spielraum sie besitzen und ob sie das eingesetzte Kapital womöglich anderweitig benötigen. Ein Kauf auf „Kante“ ist nicht ratsam. Denn wer sein Budget bis zum Limit ausschöpft, muss im Ernstfall eventuell seine Immobilie mit Verlust verkaufen. Besser ist es, konservativ zu kalkulieren und eine Entscheidung für eine kleinere Wohnung zu treffen oder mehr Eigenkapital einzusetzen. Wer jedoch bereits jetzt weiß, dass er das eingesetzte Kapital in drei oder fünf Jahren benötigen wird, sollte besser gar keine Wohnung kaufen.

Fazit: Wer kaufen will, sollte jetzt tätig werden

Wer zu einem Immobilienkauf tendiert und auch bereits ein Objekt in Aussicht hat, sollte besser frühzeitig den Stein ins Rollen bringen. Dass die wirtschaftliche Situation sich zeitnah entspannt, erscheint zum aktuellen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich – und die Entwicklungen bei den Baukrediten deuten darauf hin, dass die Konditionen mittelfristig eher schlechter werden. Für diejenigen, die eine schlüssige Antwort auf die drei genannten Fragen finden, könnte 2022 also ein geeignetes Jahr zum Immobilienerwerb sein.

Gastbeitrag von Dr. Ilja Gop, Geschäftsführender Gesellschafter von TRENDCITY GmbH