Emotionen sind fehl am Platz

25.11.2014

Rund um das Thema Pflege gibt es etliche Baustellen – vom Nachwuchs im Pflegebereich über die mangelnde Eigenvorsorge der Bürger, die lückenhafte soziale Absicherung und die vielerorts fehlende Akzeptanz des Pflege-Bahr bis hin zu massiven Vertriebsproblemen. Wo liegt der Ausweg aus diesem Dilemma?

Wie kann die Pflege krisenfest werden? Die finanzwelt sprach darüber mit Dr. Stefan M. Knoll, Vorstand der DFV Deutsche Familienversicherung AG.**

finanzwelt**: Die Politik kannte schon lange vor der Einführung der sozialen Pflegeversicherung die demografische Entwicklung. Warum hat sie dennoch das Umlageverfahren eingeführt?

Dr. Knoll: Die Probleme der sozialen Pflegepflichtversicherung würden sich nicht lösen lassen, wenn wir statt des Umlageverfahrens eine kapitalgedeckte Finanzierung hätten. Spätestens seit der Finanzkrise und einem Zinssatz zwischen 0 und 1 % kann man dieser alternativen Finanzierungsform durchaus skeptisch gegenüberstehen. Das tatsächliche Problem der sozialen Pflegepflichtversicherung entsteht durch die steigende Lebenserwartung und die damit verbundene Zunahme von Pflegefällen, die Abschaffung der Wehrpflicht durch den Wegfall der Zivildienstleistenden und natürlich auch durch den Rückgang der Kinder in der nachfolgenden Generation. Den Vorwurf, den man der Politik machen muss, ist, dass sie bisher nur einen einzigen Versuch unternommen hat, eine Vorsorgekultur zu schaffen; das war die Einführung der staatlich geförderten Pflegezusatzversicherung, auch „Pflege-Bahr" genannt. Da die Idee aber weder kraftvoll vorgetragen noch dem Zerreden durch die veröffentlichte Meinung etwas Hinreichendes entgegengesetzt wurde, warten zu viele Menschen immer noch darauf, dass der Staat etwas löst, wo sie selbst vorsorgen müssen.

finanzwelt: Ist das Pflegestärkungsgesetz ein großer Wurf zur Verbesserung der Pflegesituation?

Dr. Knoll: Für die Betroffenen ist es ein Vorteil, und wer einen Angehörigen pflegen muss, weiß, was dies für die berufliche und unter Umständen auch private und sogar finanzielle Situation bedeutet. Insofern ist jede Verbesserung aus der Sicht der Betroffenen wichtig und sozialpolitisch sicherlich auch richtig. Allerdings werden mit derartigen Maßnahmen falsche Signale ausgesandt. Weil die Pflegefälle in etwa 20 Jahren so richtig ansteigen werden – denn dann sind die geburtenstarken Jahrgänge in dem Alter, wo die Pflegefälle typischerweise auftreten – ist jede Leistungserhöhung der sozialen Pflegepflichtversicherung eine Hypothek für die nächste Generation, also für unsere Kinder. Wer also Verbesserungen durch eine Ausgabenerhöhung das Wort redet, muss auch die Eigenvorsorge propagieren. Das ist die andere Seite der gleichen Medaille. Leider beherrschen unsere Politiker nur das Verteilen von Geldern und weniger die Motivation zur Eigeninitiative, denn Letzteres wäre mit der Erkenntnis verbunden, die dann auch vermittelt werden müsste, dass der Staat nicht so leistungsfähig ist, wie die Sozialpolitiker dies suggerieren.

finanzwelt: Geschulte Pflegekräfte stehen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Diese Situation wird sich in der Zukunft angesichts der demografischen Entwicklung mit immer mehr alten und damit pflegebedürftigen Menschen noch deutlich verschärfen. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Dr. Knoll: Ich kann Ihnen jetzt eine politisch korrekte Antwort geben, indem ich Ihnen sage, dass der Beruf der Pflegekräfte attraktiver werden muss. Ich frage mich aber, wie man einen Beruf attraktiver macht, zu dem man auch ein Stück berufen sein muss. Berufung lässt sich nicht beliebig steigern. Im Übrigen fällt mir beim Attraktiver machen des Pflegeberufes auch nur die Entlohnung ein. Die soziale Stellung der Pflegekräfte ist ja keineswegs schlecht, und wer Erfahrung im Umgang mit zu Pflegenden hat, entwickelt sehr schnell einen ausgeprägten Respekt vor der Leistung der Pflegekräfte. Die Bezahlung wird also zur Schlüsselfrage. Genauso wie die Frage, ob wir in der Lage sind, Menschen, die sich grundsätzlich für diesen Beruf auch berufen fühlen könnten, durch eine attraktive Entlohnung dazu zu bewegen, diesen Beruf alternativen Berufen mit einer noch besseren Entlohnung vorzuziehen. Ich habe allerdings keine Idee, wo wir perspektivisch die dafür notwendigen Gelder hernehmen sollen. Lassen Sie mich in der Beantwortung dieser Frage noch mit einer unangenehmen Wahrheit aufwarten: Wir sind gut beraten, wenn wir schon jetzt eine Debatte um ein Aufleben des Zivildienstes führen, weil alle möglichen Alternativen dazu am Geld, an der tatsächlichen Verfügbarkeit von Menschen und der zunehmenden Singularisierung und Fragmentierung von Familien scheitern wird.

finanzwelt: 2013 ist der Pflege-Bahr eingeführt worden. Er hat viele Kritiker, auch in den Reihen der Versicherungswirtschaft. Sie gelten als einer der Verfechter dieses Modells. Gilt dies uneingeschränkt?

Dr. Knoll: Ja, ich bin uneingeschränkt ein Befürworter der staatlich geförderten Pflegezusatzversicherung, dem „Pflege-Bahr". Sicherlich könnte man auch etwas verbessern. Es geht aber um ein Prinzip, nämlich einerseits durch die staatliche Förderung einen Anreiz zum Abschluss zu schaffen und andererseits solchen Menschen, die nicht versicherbar sind, trotzdem die Möglichkeit einer Pflegezusatzversicherung zu geben. Insofern ist der Pflege-Bahr die Blaupause für die Krankenversicherung der Zukunft mit einer reduzierten gesetzlichen Krankenversicherung, einer staatlich geförderten Krankenzusatzversicherung und einer ergänzenden Krankenzusatzversicherung mit einer Gesundheitsprüfung.

finanzwelt: Wie lassen sich die Menschen beim emotional schwierigen Thema Pflege überhaupt erreichen? Der bisherige Bestand an ergänzenden privaten Policen ist ja nicht gerade beeindruckend.

Dr. Knoll: Es geht nicht um Emotionen, sondern um Tatsachen. Wir müssen den Menschen erläutern, dass die Finanzierung der Pflegefälle der Zukunft die größte sozialpolitische Herausforderung darstellt und es ohne Eigenvorsorge weder im Kollektiv noch in der einzelnen Familie funktioniert. Natürlich ist die Tatsache, dass Kinder für ihre Eltern haften, auch irgendwie etwas Emotionales. Tatsächlich aber geht es um Wahrscheinlichkeiten.

finanzwelt: Erfordert die junge Zielgruppe eine völlig neuartige Ansprache?

Dr. Knoll: Nein, wir müssen sie überhaupt ansprechen. Die Pflegeversicherung muss en passant verkauft werden. Es geht nicht darum, wegen der Pflegeversicherung zu einem potenziellen Kunden zu fahren, sondern darum, aus Anlass eines Kundenbesuches die Pflegeversicherung anzusprechen. Um die Versorgungslücke bei einem 20-jährigen jungen Menschen zu schließen, muss dieser gerade einmal 7,35 Euro aufwenden. Worüber reden wir jetzt eigentlich?

finanzwelt: Welche Ansprüche sollten die Kunden an sehr gute Pflegeangebote stellen dürfen?

Dr. Knoll: Erstens, dass sie mindestens die Versorgungslücke schließen. Zweitens, dass sie die Unterbringung im Heim nicht durch höhere Leistungen bei stationärer Aufnahme incentivieren. Wer Pflegefall wird, will nicht auch noch abgeschoben werden, nur weil das leichter und mit geringeren finanziellen Belastungen verbunden ist. Schließlich muss die enorme Gefahr der Demenz im Leistungsumfang Berücksichtigung finden. Eine Beitragsbefreiung bei Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit und im Leistungsfall ist ebenso ein Muss wie die Freiheit, Pflegeleistungen an jedem Ort der Welt in Anspruch nehmen zu können. Kurzum: Eine Pflegeversicherung muss weltweit leisten. Und aus der Sicht der Vermittler füge ich hinzu: Nur wenn die Pflegezusatzversicherung einfach ausgestaltet ist, lässt sie sich auch en passant verkaufen, und das auch dann, wenn der Kunde schon eine andere Versicherung abgeschlossen hat. (hwt)

Interview mit Dr. Stefan M. Knoll – Printausgabe 06/2014