Der Instrumentenkasten des Staates
12.12.2023
Prof. Dr. Michael Heuser, Wissenschaftlicher Direktor des DIVA - Foto: © DIVA
Die aktuellen Indizes des Deutschen Instituts für Vermögensbildung und Alterssicherung (DIVA) zur Geldanlage und Altersvorsorge drücken in Zahlen aus, was die Bevölkerung bei diesen Themen am meisten beschäftigt. Prof. Dr. Michael Heuser, Wissenschaftlicher Direktor des DIVA, erklärt im Interview mit finanzwelt unter anderem, warum das Ost-West-Gefälle in den Indizes schon lange nichts mehr mit der Mauer zu tun hat und welche Aufgaben dem Staat bei der Altersvorsorge zukommen sollten – und welche nicht.
finanzwelt: Herr Prof. Heuser, warum gibt es zwischen Ost und West immer noch einen deutlichen Unterschied, was die Motivation für Altersvorsorge und langfristiges Sparen betrifft?
Prof. Dr. Michael Heuser: Nach unserer Analyse und Beobachtung ist es gar kein ‚immer noch‘, sondern schlichtweg die unterschiedliche demografische Struktur, die wir in Ost und West haben. Das macht sich an drei Punkten fest: Erstens haben wir Einkommens- und Geldvermögensunterschiede, die historisch bedingt sind und die natürlich auch die Sparmöglichkeiten beeinflussen. Zweitens haben Ältere einen geringeren Geldanlageoptimismus als Jüngere. Hier kommt die unterschiedliche Altersstruktur zwischen Ost und West zum Tragen – der Altersdurschnitt ist in Ostdeutschland signifikant höher als in Westdeutschland. Daraus folgt, dass der Geldanlageoptimismus dort kleiner ist. Der dritte Punkt ist die Sicherheitsorientierung. Wir hatten in den letzten zwanzig Jahren eine starke Wanderung von Ost nach West, und es sind vermutlich auch eher die Risikobereiteren, die ihre Heimat verlassen und woanders neu anfangen. Auch das schlägt sich im Meinungsklima zur Altersvorsorge und zur aktienbasierten Geldanlage in Form weniger optimistischer Einschätzungen und Erwartungen nieder. Wenn wir diese drei Faktoren im Licht der aktuellen Inflationsraten betrachten, hat sich die Diskrepanz in den letzten zwei bis drei Jahren sogar noch verschärft.
finanzwelt: Stichwort Inflation: Wie deutlich schlägt diese sich in Ihren aktuellen Zahlen der Indizes nieder?
Prof. Heuser: Die Inflation hinterlässt ihre Bremsspuren, keine Frage. Wir haben allerdings auch den Eindruck, dass die Menschen in Deutschland sich an die Situation anpassen. Sicher auch deshalb, weil wir mittlerweile wieder sinkende Inflationsraten bei gleichzeitig steigenden Zinsen haben. Das heißt, die beträchtliche Lücke der letzten Jahre zwischen Nullzinsen auf zinsbasierten Anlageformen und hoher Inflation hat sich bei kurzen Laufzeiten inzwischen geschlossen. Für Sparerinnen und Sparer bedeutet das jetzt noch stärker, sich über die eigenen Sparziele im Klaren zu sein und – daraus abgeleitet – auch über die Sparhorizonte. Die ‚One-Size-fits-all‘-Sparstrategie – alles aufs Sparbuch – ist vor zwanzig Jahren vielleicht gutgegangen, weil es da ordentliche Zinsen gab bei relativ geringer Inflation und hoher Sicherheit. Es gibt aber nicht die eine Sicherheit. Es gibt kurzfristige und langfristige Sicherheit. Erstere ist im Wesentlichen eine Liquiditätssicherheit, wie der Notgroschen. Letzteres ist eine Rentabilitätssicherheit. Die Frage ist: Muss ich die Rentabilität, die ich beanspruche, durch höheres Risiko erkaufen? Nein, das müssen Sie nicht. Wenn Sie an Rentabilität denken, werden Sie langfristig sicher nicht an den Aktienmärkten vorbeikommen. Sie werden aber das damit verbundene potenzielle Risiko ausgleichen können: über die Langfristigkeit der Geldanlage, über eine breite Streuung – da reden wir dann über Fonds und nicht über Einzelaktien – und über regelmäßiges Sparen, also über Sparpläne. Alle Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass man mit einer solchen Geldanlage-Strategie eine angemessene Rentabilität mit einer hohen Sicherheit verbinden kann.
finanzwelt: Was muss man von der Regierung erwarten, damit die Altersvorsorgeplanung möglichst nahtlos vonstattengeht?
Prof. Heuser: Es sind vier Faktoren, die ich an dieser Stelle ansprechen will. Erstens: Reformen mit ruhiger Hand. Gerade wenn es um langfristiges Sparen und Altersvorsorge geht, kommt es auf die langfristige Berechenbarkeit der Politik an. Zweitens: Staatliche Kernkompetenzen mit Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Qualität kombinieren. Drittens: Staatliche Selbstbeschränkung auf Schlüsselzuständigkeiten. Unsere Umfragen zeigen, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in der Hand behalten wollen. Natürlich muss der Staat schwierige Schicksale wie etwa Altersarmut abfedern und soziale Sicherheit bieten. Aber er darf den Menschen ruhig zutrauen, dass sie auch für sich selbst sorgen können. Viertens: Zugleich sollte er sie ruhig in die richtige Richtung ‚schubsen‘, damit sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Wie etwa durch Förderung von privater Altersvorsorge, Riester, aktienbasiertes Sparen. Das sind Dinge, die der Staat tun kann.
finanzwelt: Wie könnte dieses „Schubsen“ in die richtige Richtung durch den Staat denn aussehen? Immerhin ist in der Rentenpolitik häufig die Rede von Plänen bis 2035 oder 2050.
Prof. Heuser: Der Staat muss seinen Instrumentenkasten klar haben. Wenn Sie von 2035 oder 2050 sprechen, ist es zum Beispiel das Generationenkapital, und das ist ein zusätzliches – aktienbasiertes – Finanzierungselement der gesetzlichen Rente. Nehmen wir die drei Säulen der Altersvorsorge – die gesetzliche, die betriebliche und die private –, dann sollte der Staat die Arbeitgeber sowie die Bürgerinnen und Bürger dazu ermuntern, ihre Säule der Vorsorge wahrzunehmen. Berechnungen zeigen: Wenn wir die gesetzliche Rente so weiterlaufen lassen wie bisher, werden wir Mitte des Jahrhunderts die Hälfte des Bundeshaushaltes zur Bezuschussung der gesetzlichen Rente brauchen – das ist nicht leistbar. Der Staat kann nicht in diese Lücke reinspringen. Er muss dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger sowie Arbeitgeber diese Verantwortung stärker wahrnehmen. Das ist sicher auch ein Thema der offenen Kommunikation und Information.
finanzwelt: Das Vertrauen in den Staat ist erheblich gesunken. Wie kann es wiederhergestellt werden?
Prof. Heuser: Im Kern ist jeder Einzelne für seinen Wohlstand im Alter verantwortlich. Ist man sich darüber einig, so kann man sich umso mehr darauf verlassen, dass der Staat in Notsituationen einspringen wird. Wir können ihn nicht damit überfordern, indem wir sagen, er soll die Sicherung meines gewohnten Lebensstandards im Alter finanzieren. Die Kernaufgabe des Staates ist nicht Wohlstandsabsicherung, sondern soziale Notabsicherung. Und um diese Kernaufgabe ist mir nicht bange – sie ist finanzierbar, nicht zuletzt, weil Deutschland eine ausgezeichnete Bonität an den Kapitalmärkten hat. Man darf bei den Bürgern nur nicht den Eindruck erwecken, der Staat sei für alles zuständig.
finanzwelt: Wie kann die Gender-Pay-Gap und somit auch die Gender-Pension-Gap langfristig geschlossen werden?
Prof. Heuser: Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, und diesen müssen wir forsch weitergehen. Geringeres Einkommen bedeutet schließlich geringere Sparmöglichkeiten, geringere Sparquoten und dann weniger renditeträchtiges, also etwa aktienbasiertes Engagement. Es kommt allerdings noch ein weiterer Punkt hinzu, und darüber muss die Politik sich Gedanken machen: Frauen haben ein anderes Sicherheitsprofil als Männer. Ein Beispiel: Wenn Frauen darüber nachdenken, ein Kind zu bekommen, dann muss Geld kurzfristig für eine Babypause verfügbar und sicher sein – nicht nur langfristig für die Altersvorsorge. Das kann zu einer defensiveren Anlagestrategie führen und damit zu einem Verzicht auf Rendite. Außerdem ist die gesetzliche Rente bei Frauen aufgrund von Biografie-Unterschieden geringer als bei Männern. Zudem haben Frauen eine um rund vier Jahre höhere Lebenserwartung. Alles in allem bedeutet das, dass die private Altersvorsorge höher sein und länger reichen muss als bei Männern! Und das umso mehr, je unverzichtbarer die private Säule zur Absicherung gegen Altersarmut wird. Frauen müssen also mehr privat vorsorgen. Darüber muss die Politik über eine faire und notwendige Einkommens-Egalisierung hinaus nachdenken. Dem muss die Politik Rechnung tragen.
finanzwelt: Der Berater ist der Vermittler zwischen Privatperson und Altersvorsorge-Möglichkeiten. Wie kann das Vertrauen in den Berater gestärkt werden?
Prof. Heuser: Unsere Befragungsergebnisse zeigen, dass es um das Vertrauen in Finanzberatung gar nicht so schlecht bestellt ist. Da hat sich in den letzten zwanzig Jahren erheblich etwas bewegt. Natürlich gibt es auch unter den Finanzberatern schwarze Schafe, die gibt es in jedem Berufsstand. Ich sehe, dass die Auswahl der Finanzberater inzwischen auf einem hohen Niveau ist – unter fachlichen wie unter charakterlich-ethischen Aspekten. Ich sehe, dass es eine sehr gute Aus- und Weiterbildung gibt – da hat die Politik durch Vorgaben sehr viel getan, und da hat die Branche aus eigenem Interesse sehr viel getan. Die Finanzberatung in Deutschland befindet sich auf sehr solidem Niveau. Unsere Befragungen zeigen, dass das auch die Bürgerinnen und Bürger so sehen. 70 % schätzen persönliche Beratung bei komplizierteren Finanzthemen. Insbesondere von Finanzberatern, die stärker unabhängig von bankeigenen Produkten beraten können. Und es sind sogar 80 % der jungen Leute, die sich dann Rat einholen. (ml)