Aktientrends werden gegenwärtig stark durch den KI-Hype überlagert
12.06.2023
Dr. Eduard Baitinger ist seit 2015 Head of Asset Allocation in der FERI Gruppe
Dr. Eduard Baitinger ist ein ausgewiesener Marktkenner und seit mehreren Jahren Head of Asset Allocation in der FERI Gruppe. Mit Blick auf die aktuelle Lage an den Kapitalmärkten und der nahen Zukunft sprach er mit finanzwelt über die wesentlichen Dinge und Trends.
finanzwelt: Herr Dr. Baitinger, die Inflation ist im Rückwärtsgang, der DAX springt über die 16.000er Marke und das Thema der Schuldenobergrenze in den USA ist vorerst erledigt. Gute Nachrichten, doch trügt der Schein?
Dr. Eduard Baitinger: Auch aus fundamentaler Sicht gibt es gute Nachrichten für deutsche und europäische Unternehmen. Der deutliche Rückgang der Energiepreise, das Reopening in China zu Jahresbeginn, der günstige Euro-Wechselkurs und das erfolgreiche Management der Gewinnmargen (zum Leidwesen der Verbraucher) haben zu einer positiven Gewinnentwicklung geführt. Das bedeutet, dass die Dax-Gewinne in diesem Jahr auf einer soliden fundamentalen Basis beruhen. Die Lösung des US-Schuldenstreits hat die Stimmung an den Börsen weiter verbessert.
Was den Ausblick betrifft, sollte man nicht den Fehler machen, die genannten positiven Faktoren zu überschätzen. Denn diese sind Geschichte und bereits berücksichtigt. Der Blick nach vorne birgt viele Risiken: In China ist ein echter wirtschaftlicher Aufschwung nicht abzusehen, in den USA droht eine Rezession und in Europa bremst die EZB die Wirtschaft. Darüber hinaus sind Technologieunternehmen auf deutschen und europäischen Börsen unterrepräsentiert, sodass sie kaum vom derzeitigen KI-Hype profitieren werden. Auf der anderen Seite sind der Dax und europäische Unternehmen generell günstig bewertet und dürfen im Portfolio eines langfristig orientierten Investors nicht fehlen.
finanzwelt: Mit Blick auf die Inflationsstände dies- und jenseits des Atlantiks, wie werden die Notenbanken kurz- bis mittelfristig handeln?
Dr. Baitinger: Auf globaler Ebene befinden wir uns derzeit in einer typisch spätzyklischen Phase. Viele Volkswirtschaften sind voll ausgelastet oder sogar überhitzt, wodurch sie anfällig für die Ausbildung einer strukturellen Inflation werden. Als Reaktion darauf haben die Notenbanken eine aggressive Straffungspolitik eingeleitet. Diese Maßnahmen sollen die Konjunktur abkühlen und dadurch den Inflationsdruck mindern.
Allerdings unterscheidet sich der aktuelle Zyklus erheblich von den Zyklen der letzten 30-40 Jahre. Der Inflationsdruck ist derart gravierend, dass selbst die brutale geldpolitische Straffung nicht ausgereicht hat, um diesen entscheidend einzudämmen. Notenbanken werden daher nicht bei den ersten Anzeichen einer Rezession mit einer Lockerung der Geldpolitik reagieren. Ganz im Gegenteil dürften in naher Zukunft sogar weitere vereinzelte Zinserhöhungen folgen, obwohl diese mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten verbunden sind. Zinssenkungen im Laufe des Jahres sind unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen: Wenn der Abschwung sich in eine schwere Rezession mit systemischen Risiken für die Finanzstabilität zu entwickeln droht, werden die Notenbanken die Bekämpfung der Inflation stoppen und eine 180-Grad-Wende vollziehen.
finanzwelt: Der Anstieg bei vielen Indizes war auf Kurssprünge weniger Aktientitel zurückzuführen. Sie sprachen kürzlich von "Aktienmärkte mit starker Schlagseite". Welche Sektoren sollten Investoren im Blick haben bzw. welche gilt es eher zu meiden?
Dr. Baitinger: Die sektoralen und regionalen Aktientrends werden gegenwärtig stark durch den KI-Hype überlagert. Die wenigen Marktsegmente, die eine KI-Exponierung aufweisen, entwickeln sich sehr positiv, während der große Rest eine spürbare relative Underperformance aufweist. Natürlich empfiehlt es sich nicht, sein Portfolio vollständig auf den KI-Hype auszurichten. Genauso sollte man nicht zu aggressiv gegen den KI-Hype wetten, da solche Börsenhypes erfahrungsgemäß Monate bis Jahre andauern können.
Der fundamentale Ausblick spricht vorerst noch für eine Übergewichtung von defensiven Sektoren. Im Jahresverlauf werden die aktuell unbeliebten konjunktursensitiven Sektoren, wie Small Caps und Financials, zunehmend interessant. Diese Sektoren haben bereits jetzt viel „Bad News“ eingepreist und dürften bei Fortschreiten des ökonomischen Abschwungs eine ausreichende Sicherheitsmarge in den Bewertungsniveaus aufgebaut haben.
finanzwelt: Technologie ist 2023 wieder hoch im Kurs. KI, ChatGPT. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein? Ist bereits viel Phantasie in den Kursen eingepreist?
Dr. Baitinger: In der Tat haben die Märkte zuletzt angefangen, eine neue KI-getriebene industrielle Revolution einzupreisen. Die Bewertungen der Mega Caps und weiteren kleineren Technologieunternehmen mit KI-Exposure ist im Aggregat deutlich gestiegen und hat sich vor allem seit März von den gängigen Einflussfaktoren abgekoppelt. Natürlich bietet KI viele interessante Potenziale und könnte das langfristige Produktivitätswachstum spürbar erhöhen. Aber gegenwärtig ist es unmöglich, mit einer hinreichend genaueren Präzision die vermuteten Potenziale abschätzen zu können. Zudem dürfen Anleger nicht vergessen, dass eine breite (und hoffentlich erfolgreiche) Adaption von KI gleichzeitig viele Verlierer hervorbringen wird, auch unter den Technologieunternehmen. D.h. der positive Netto-Effekt auf die Ökonomien und Finanzmärkte dürfte viel kleiner ausfallen als es die KI-Optimisten derzeit prognostizieren.
finanzwelt: Auf der anderen Seite heißt es „Bonds are back“. Inwiefern bieten die Anleihenmärkte aktuell wieder Chancen?
Dr. Baitinger: Im bisherigen Jahresverlauf haben Aktienmärkte Anleihen klar outperformt. Diese deutliche Outperformance dürfte sich mittelfristig nicht wiederholen. Der fragile fundamentale Ausblick, die fortschreitende Disinflation und das absehbare Ende der geldpolitischen Straffungskampagnen schaffen ein günstiges Umfeld für Qualitätsanleihen. Die Kurse dieser Anleihen werden von den voraussichtlich sinkenden Zinsniveaus profitieren. Unternehmensanleihen sind vor diesem Hintergrund nur bedingt interessant, während riskantere Unternehmensanleihen (High Yield Segment) klar untergewichtet werden sollten.
Generell muss aber beachtet werden, dass die laufende Verzinsung von sicheren Qualitätsanleihen in den letzten Jahren zwar deutlich angestiegen ist, aber inflationsadjustiert ist die Verzinsung, wie auch in den Vorjahren, weiterhin negativ. Investoren, die langfristig einen Realwerterhalt anstreben, sollten daher die strategische Anleihenquote geringhalten und taktisch, je nach Umfeld, Opportunitäten wahrnehmen.
finanzwelt: An der Schwelle zum zweiten Halbjahr – welche Empfehlung würden Sie Anlegern mit auf dem Weg geben, die ggf. eine Reallokation ihrer Portfolios vornehmen möchten?
Dr. Baitinger: Das zweite Halbjahr dürfte „tricky“ werden und oft Marktmuster zeigen, die für Investoren zunächst unlogisch anmuten. Ursächlich dafür ist der gegensätzliche Verlauf der Markthaupttreiber in der zweiten Jahreshälfte. Auf der einen Seite ist der fundamentale Ausblick bestenfalls impulslos, mit klaren Downside-Risiken. D.h. Risky Assets werden von der Fundamentalseite keine Unterstützung erfahren. Auf der anderen Seite wird die fortschreitende Disinflation den Druck von den Notenbanken nehmen und Zinssenkungsfantasien entfachen. Dieser Aspekt ist positiv für die Bewertungsseite der Risky Assets. Die gesamte Gemengelage wird vom gegenwärtigen KI-Hype verkompliziert, der wahrscheinlich noch nicht zu Ende ist und schubweise das Marktgeschehen dominieren wird.
Zusammenfassend kann für die zweite Jahreshälfte keine statische Asset Allocation empfohlen werden. Anleger sollten eine dynamische Risiko-Steuerung und Segmentauswahl verfolgen. Für den Moment ist eine insgesamt defensive Ausrichtung zu empfehlen. Hierzu zählen auch, trotz des KI-Hypes, die großen Technologiewerte, welche qualitativ hochwertige Bilanzen aufweisen und somit im Ernstfall nicht von einer Kreditverknappung tangiert sind.