Ein Jahr Brexit - und nun?

13.07.2017

Philippe Waechter, Chefvolkswirt von Natixis Asset Management / Foto: © NAM

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David Lafferty, Chef-Marktstratege, Natixis Global Asset Management / Foto: © NGAM[/caption]

David Lafferty, Chef-Marktstratege, Natixis Global Asset Management

Vor mittlerweile einem Jahr stimmten die Briten im Rahmen eines Referendums für den Austritt aus der EU. Mit jedem Tag, der seitdem verstrichen ist, ist immer deutlicher geworden, wie schwierig ein Rückzug Großbritanniens aus den gesetzlichen Regelungen, Institutionen und wirtschaftlichen Beziehungen der EU sein wird. Noch erschwert worden ist dieser Prozess durch den Umstand, dass sich Premierministerin May mit ihren vorgezogenen Neuwahlen schlicht verzockt hat. Dadurch ist ihre bereits schwache Verhandlungsposition noch zusätzlich beeinträchtigt worden. Die vielleicht größte Überraschung seit dem vergangenen Juni ist aber die robuste Tendenz, welche die britische Wirtschaft trotz des Referendums vorgelegt hat. Obwohl das Verbraucher- und das Unternehmervertrauen deutlich gesunken sind, haben sich die „harten Wirtschaftsdaten“ nämlich als sehr widerstandsfähig erwiesen. Allerdings könnten die guten Zeiten demnächst vorbei sein. So fiel das britische BIP im I. Quartal schwächer aus, und die Verbraucher spüren allmählich die Auswirkungen des niedrigen Lohnwachstums und der steigenden Inflation. Darüber hinaus haben die Industrieproduktion sowie die Aktivitäten im produzierenden Gewerbe zuletzt nachgelassen. Obwohl Notenbankchef Carney seinerzeit dafür kritisiert worden war, erscheint die proaktive Zinssenkung der Bank of England aus dem letzten September derzeit eher vorausschauend. Mit dem Beginn der Brexit-Gespräche nimmt also auch die wirtschaftliche Unsicherheit zu, und diese neue Realität spiegelt sich in den Wirtschaftsdaten bereits wider.

Ein zweiter wichtiger Faktor könnte darin bestehen, dass sich die vorrangingen wirtschaftlichen Hindernisse, die es zu überwinden gilt, zusehends wandeln. Zunächst konzentrierten sich die Ängste noch auf den Handel sowie auf die Frage, wie der Zugang der Briten zum EU-Binnenmarkt in Zukunft aussehen könnte. Aber selbst für den schlimmsten Fall – also einer Rückkehr zu den Vorgaben und Zöllen der WTO – ist ein Teil der Belastung für den britischen Exportsektor durch die 13%-ige Abwertung des britischen Pfund gegenüber dem Euro abgefedert worden. Besorgniserregender ist deshalb vermutlich die zunehmende Unsicherheit um die Freizügigkeit der Bürger, die Rechte von Arbeitnehmern sowie die Flexibilität des Arbeitsmarktes. So wächst die Verunsicherung britischer Firmen im Hinblick auf diese Probleme. Werden Unternehmen ihren Standort verlagern müssen? Wie werden sie nach dem Brexit noch qualifizierte Arbeitskräfte finden? Obwohl der „freie Zugang zu den Märkten“ sowie die „Freizügigkeit von Bürgern“ im Rahmen der Brexit-Verhandlungen wichtige Themen sind, könnten die Probleme im Hinblick auf den Status von Arbeitnehmern innerhalb der Wirtschaft die Handelsfragen im Exportsektor überwiegen.

Im letzten Jahr haben sich die Vertreter der EU sowie Großbritanniens kaum auf einen gemeinsamen Nenner verständigen können. Dies gilt nicht nur für die zu verhandelnden Themen selbst, sondern auch für die Verhaltensregeln sowie den Ablauf der Gespräche. Die britischen Verhandlungsführer fühlen sich an den im Referendum zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung gebunden. Die EU-Vertreter können jedoch keine „Vorzugsbehandlung“ anbieten, ohne den Zorn der 27 übrigen Mitgliedstaaten auf sich zu ziehen. Stattdessen hat die EU sogar noch Öl ins Feuer gegossen, indem sie den Briten eine „Brexit-Rechnung“ in Höhe von 60 Mrd. Euro vorgelegt hat. Da es Theresa May nicht gelungen ist, die Stimmenmehrheit ihrer Konservativen Partei auszubauen, hat sich ihre Verhandlungsposition für die sowieso unübersichtlichen und schwierigen Gespräche noch einmal verschlechtert. Aus diesem Grund ist mittlerweile eine größere Zahl von Szenarios denkbar, obwohl anfangs viel für einen sauberen Schnitt – den sogenannten „harten Brexit“ – gesprochen hatte. Ein Jahr nach dem Votum ist die wirtschaftliche Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Brexit deshalb also nicht kleiner, sondern größer geworden.