Fit in Sachen Nachhaltigkeit
18.08.2022
Dr. Christopher Jahns, Gründer und CEO von XU und Mitinitiator der XU Exponential University of Applied Sciences / Foto: © XU
finanzwelt: Wie steht die Finanzbranche in Sachen ESG da? Jahns: Auch in der Finanzbranche fordern immer mehr Regularien Nachhaltigkeitsnachweise ein. Schon in Kraft getreten ist 2021 zum Beispiel die EU-Transparenzverordnung 2019/2088, die Finanzinstitute und andere Finanzmarktteilnehmer verpflichtet, ihren Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit offenzulegen. Das heißt konkret, dass nicht nur das Anlageportfolio von Banken und Versicherungen vor einer Transformation nach ESG-Kriterien steht – auch die Unternehmen selbst müssen sich verändern. Ein Beispiel: Zwar verursacht die Finanzbranche anders als etwa Industrieunternehmen keinen großen direkten Ausstoß von Treibhausgasen. Der digitalisierte Finanzmarkt ist aber offensichtlich eng mit der IT-Branche verwoben. Und der für IT-Prozesse anfallende Stromverbrauch durch Rechenzentren ist sehr hoch. Dieser muss deshalb schnellstmöglich auf erneuerbare Energien umgestellt werden bei gleichzeitiger Einführung energiesparenderer Prozesse.
Darüber hinaus müssen Unternehmen ausgewählter Branchen, darunter auch Banken, bereits seit diesem Jahr in ihren Geschäftsberichten über das Jahr 2021 den Anteil nachhaltiger Investments und Umsätze ausweisen. Diese Geschäftsberichte wiederum stellen auch die Grundlage für Entscheidungen etwa von Investitionsfonds dar, wenn diese gezielt in Firmen investieren wollen, die nachhaltige Aktivitäten im geforderten Maß nachweisen können. Man sieht also deutlich, das Thema ist ein Kreislauf und für die unterschiedlichsten Stakeholder und Perspektiven relevant. Im August dieses Jahres kommt dann ein weiterer Aspekt dazu: Vermittler:innen sind verpflichtet, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kund:innen abzufragen und sie zum Thema nachhaltige Versicherungs- und Finanzanlageprodukte zu beraten (Änderungen der delegierten Rechtsakte zur MiFID II insbesondere der delegierten Verordnung (DVO) ((EU) 2021 / 1253).
Die Präferenzen müssen Banken bei ihren Anlageempfehlungen und -entscheidungen berücksichtigen. Dazu ist die Klassifizierung nachhaltiger Finanzprodukte nun deutlich detaillierter und geht über die bisherige SFDR-Klassifizierung hinaus. Gemeinsam mit anderen Verbänden hat der Bankenverband einen gemeinsamen Mindeststandard zur Bestimmung des Zielmarkts nach MiFID II entwickelt. Dieses Konzept wurde ebenfalls erweitert, um den neuen Nachhaltigkeitsanforderungen der MiFID II DVO gerecht zu werden. Diese Änderungen betreffen Wertpapierfirmen, die Anlageberatungen bzw. Portfolioverwaltung anbieten. Der zugehörige Rechtstext erschien im April 2021, trat am 2. August 2021 in Kraft und findet nun ab dem 2. August 2022 Anwendung.
finanzwelt: Was bieten Sie konkret für Hilfestellungen? Jahns: Mit unserer Plattform zeigen wir in aufeinander abgestimmten Programmen die Vielschichtigkeit von Nachhaltigkeit auf. Im ersten Schritt vermitteln wir den Beschäftigten immer entsprechende Grundkompetenzen und Basiswissen, auf welchem die Nachhaltigkeitstransformation aufbauen kann. Aktuell können wir dafür auf interaktive Lerninhalte im Umfang von rund 55 Stunden plus 50 Stunden themenbegleitenden Content zurückgreifen. Weitere plattformbasierte Qualifizierungsprogramme, die sich sowohl an Einsteiger:innen als auch Nachhaltigkeitsexpert:innen richten, sind bereits in der Entwicklung. Unser Plattformangebot für Sustainability deckt dabei folgende acht Wissensfelder ab: Mission Nachhaltigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit, Climate Action, Soziale Nachhaltigkeit, Ökonomische Nachhaltigkeit, Sustainable Finance, Branchenfokus Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit im Alltag.
Im Bereich Sustainable Finance vermitteln wir beispielsweise Wissen rund um nachhaltige Finanzstandards, ESG-Regularien und Strategien sowie Praxiswissen aus relevanten Business-Cases: Unternehmen und Finanzinstitute treffen sich im Rahmen der europäischen Regulierung an der Schnittstelle ESG und CSR. Doch was bedeutet das konkret? In unserem Kurs beleuchten wir die nachhaltige Finanzwelt, betrachten die Unterschiede und Überschneidungen von ESG und CSR und geben einen Einblick in die aktuelle Regulatorik sowie Erfolgsgeschichten aus dem nachhaltigen Finanzproduktsegment. In diesem Kontext beantworten wir Fragen, wie: Was sind nachhaltige Finanzen? Wo treffen und wo unterscheiden sich nachhaltige Finanzen und nachhaltige Wirtschaft? Wir gehen aber auch darauf ein, welche Regulationen und Standards zu nachhaltigen Finanzen künftig auf die Weltwirtschaft zukommen. Daneben erläutern wir die Bedeutung der EU Taxonomy für Unternehmen und Anlegende. Und wir geben konkrete Beispiele für erfolgreiche Zusammenarbeit von Investor:innen und Investees.
Um den verschiedenen Teilnehmer:innen passgenaue Lernpfade anbieten zu können, haben wir konkrete Jobprofile, wir sprechen dabei von Personas, entwickelt: vom CEO über leitende Angestellte bis zum produzierenden Mitarbeitenden. Abhängig von der Persona liegt auch ein anderer Schwerpunkt auf den einzelnen Wissensfeldern.
Alle Nutzer:innen starten mit einem etwa zehnminütigen „Sustainability Check“ in die individuelle Lernreise. So können die Lernenden feststellen, in welchen Themengebieten sie bereits Stärken haben und welche weiter ausgebaut werden sollten. Die Auswertung können aber nur die User selbst in ihrem persönlichen Profil einsehen – Führungskräfte haben keinen Zugriff darauf. Die Lerninhalte der Wissensfelder werden remote in einem abwechslungsreichen, interaktiven Formatmix angeboten und von digitalen Live-Sessions ergänzt. Die komplette Lernreise findet auf unserer Online-Education-Plattform statt und kann sowohl unterwegs auf dem Smartphone o. ä. Endgeräten als auch am PC genutzt werden.
finanzwelt: Eine Sorge der Makler ist die Umsetzung der Richtlinie „Abfrage der Nachhaltigkeitsprä-ferenzen“. Hier herrscht große Unsicherheit. Sehen Sie das als Chance? Jahns: Staatliche Regularien und Richtlinien wie diese sehe ich ganz klar als Chance und notwendigen Treiber von Nachhaltigkeit und Klimaschutz, weil sie verbindliche Standards setzen – so, dass alle das Ziel kennen. Und in diesem speziellen Fall trägt die Richtlinie nicht zuletzt dazu bei, das Thema Nachhaltigkeit auf die gesamtgesellschaftliche Agenda zu bringen. Ich verstehe aber auch die Unsicherheit der Makler:innen: Dazu habe ich kürzlich eine interessante Umfrage von BVK GSN gelesen, in der rund 300 Finanzberater:innen befragt wurden und die deutlich macht: Der Themenkomplex Nachhaltigkeit stößt unter den Makler:innen allgemein auf großes Interesse, es bestehen allerdings enorme Informationsdefizite. Einerseits sagen stolze 75 % der Befragten, dass sie aus voller Überzeugung am Thema Nachhaltigkeit interessiert seien. Allerdings fühlen sich 71 % der Befragten gar nicht oder wenig informiert, was Vorgaben zu Inhalt, Ablauf und Dokumentation des Beratungsprozesses im Bereich Nachhaltigkeit betrifft. Ähnlich große Unsicherheit existiert bei der Beurteilung der Nachhaltigkeitsaussagen zu einzelnen Produkten – hier fühlen sich bisher nur 4 % der Umfrageteilnehmer:innen vollständig informiert. Für die Vermittler:innen heißt es genau deshalb jetzt: volle Kraft voraus, keine Zeit verlieren und das nötige Wissen aufbauen.
finanzwelt: Wünschen Sie sich mehr Unterstützung von der neuen Regierung diesbezüglich und zu eventuellen Förderprogrammen? Jahns: Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass durch Regularien nicht nur ein Ziel gesetzt wird, sondern allen Beteiligten auch der Weg dorthin aufgezeigt und erleichtert wird. Um noch einmal auf das Beispiel Digitalisierung zurückzugreifen: Hier wurde dem umfassenden Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt u. a. mit dem Qualifizierungschancengesetz Tribut gezollt. Denn damit gab und gibt es Verbesserungen in der Weiterbildungsförderung. So erhalten Beschäftigte und Arbeitgebende höhere Zuschüsse in der beruflichen Weiterbildung, wenn ein entsprechender Nachweis vorliegt. In puncto Nachhaltigkeit lässt ein Äquivalent noch auf sich warten. Nichtsdestotrotz: Jedes Förderprogramm ist am Ende auch nur so gut, wie die Kommunikation drum herum. Wenn entsprechende Programme und Vorteile in den Unternehmen nicht bekannt sind, werden sie auch nicht in Anspruch genommen. (fw)