Female Finance – Warum wollt ihr unser Geld nicht?

17.08.2023

Nehir Safak-Turhan, Senior Business Development Manager, adesso SE

80% der weltweiten Kaufentscheidungen werden von Frauen getroffen. Ein Drittel des Vermögens in West-Europa ist in Frauenhand. Nie war die Quote der Frauen unter den Ultrareichen (12%) in der Geschichte so hoch wie aktuell. 39 Milliarden Euro umfasst das Investitionspotential bei Frauen zwischen 30 bis 60 Jahren in Deutschland und Österreich. Florierende Aussichten für Unternehmen, die Frauen und ihre Bedürfnisse als Zielgruppe ernst nehmen. Gilt das auch für die Finanzbranche?

Nachhaltigkeit im Zielbild – Gender Equality als Teilkomponente

Geschlechtergerechtigkeit ist das fünfte Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie der Vereinten Nationen. Sie setzt die gleichberechtigte Partizipation von Frauen in allen Lebensbereichen wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft voraus. Das impliziert neben existentiellen Grundbedingungen wie den Zugang zu gesundheitlichen Einrichtungen und dem Bildungswesen auch den Schutz vor Gewalt und Ausbeutung. Gleiche Rechte in Gesellschaft und Wirtschaft bedeutet auch Chancengleichheit für den Erwerb von Eigentum, den Aufbau von Vermögen und den Zugang zu finanziellen Dienstleistungen. Sie dienen als Grundvoraussetzung für die Befähigung zur Selbstbestimmung und sind damit Kriterien für gelebte Geschlechtergerechtigkeit.

Geschlechtergerechtigkeit in der Finanzbranche

Geschlechtergerechtigkeit gilt auch im Finanzwesen. Unter dem Begriff des sogenannten Financial Services Gap macht sich das Phänomen der gleichberechtigten Versorgung der Geschlechter greifbar. Es bringt zum Ausdruck, wie eine paritätische Versorgung, Teilhabe und Berücksichtigung von Frauen und ihren Bedürfnissen in der Finanzwelt gewährleistet werden. Gleichzeitig stellt sich oft die Frage, warum und ob das Geschlecht im Finanzwesen eine Rolle spielen sollte, obwohl Frauen vermeintlich gleiche Möglichkeiten haben sich zu beteiligen. Ein Blick hinter die Kulissen schärft den Blick.

Die Teilhabe am Finanzmarkt hängt im Allgemeinen vom Einkommensniveau, Vermögen und den Liquiditätsströmen ab. Diese Faktoren bestimmen, welche Finanzdienste in Abhängigkeit der individuellen Lebenslage nachgefragt werden.  Sie variieren je nach Bedürfnis und können eine breite Palette von Finanzprodukten, wie Liquidität (Konto, Zahlungsverkehr), Kredit (Konsum, Baufinanzierung), Vorsorge (Versicherungen, Absicherung) und Vermögen (Geldanlage, Investition), umfassen. Welche Finanzdienste dabei tatsächlich in Anspruch genommen werden können, erfordert einen Blick auf die ökonomischen Verhältnisse der Zielgruppe.

Frauen verdienen in Deutschland im Schnitt 18% weniger als Männer. Diese Lücke im Erwerbseinkommen liegt bei gleichen Qualifikationen und ähnlichem Jobprofil bei sieben Prozent.¹ Ihre Erwerbsbeteiligung ist mit etwa sieben Prozent niedriger als die bei Männern.² Sie sind häufiger in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und haben während ihres Erwerbslebens bis zu 45% weniger Einkommen als Männer. Nach Ausscheiden aus dem Berufsleben beziehen sie bis zu 49% weniger Rente. Statistisch gesehen ist jede fünfte Frau in Deutschland von Altersarmut betroffen. Für drei von zehn Frauen wird der Ehemann zur Altersvorsorge.

Die Vermögensbildung korreliert positiv mit dem verfügbaren Einkommen im erwerbsfähigen Alter (ausgenommen Erbschaften, materielle Wertsteigerungen, etc.). Je niedriger das Einkommensniveau, umso geringer die Chancen für Vermögensaufbau. Eine Studie aus dem Jahr 2017 untersucht die geschlechtsspezifischen Vermögensverhältnisse in Österreich und Deutschland.³ Für Paarhaushalte in Deutschland kamen die Forschenden auf einen durchschnittlichen Gender Wealth Gap von 40.599 Euro – das ist ein um 32% niedrigeres Vermögen für Frauen.

Dabei müssen die Unterschiede nicht zwingend auf schulische oder berufliche Qualifikationen zurückgeführt werden. 2019 hatten etwa 41% der Frauen und 39% der Männer im erwerbstätigen Alter Abitur oder Fachhochschulreife.⁴

Quelle: Hans Böckler Stiftung

Die Folgen auf dem Finanzmarkt

Größere Einkommens- und Vermögensunterschiede, zurückzuführen auf niedrigere Erwerbsbeteiligung und geringeres Arbeitsvolumen, höhere Schwankungen in Einkünften sowie Unterschiede in Lebensphasen (Schwangerschaft, Care Zeit) führen oft dazu, dass klassische Finanzdienste geschlechtsspezifische Besonderheiten und Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigen. Das hat Auswirkungen auf das Sparen, Investieren und die Altersvorsorge. Mangelnde Kenntnisse und fachspezifisches Wissen führen des Weiteren dazu, dass Frauen stärker von finanziellen Fehlentscheidungen und fehlendem Finanzwissen betroffen sind, was zu einer Unterversorgung oder einem Ausschluss führt.  Die Gefahr, dass Frauen stärker von automatisierten Bias betroffen sind, die sich in Form von schlechteren Konditionen oder geschlechtsspezifischen Benachteiligungen äußern, führen zu weiteren Benachteiligungen.

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Quelle: Bankenverband, Female Finance 2023