Gökhan Kula: „Es lebe der Türkische Frühling“

06.06.2013

**In den letzten Tagen kommen besorgniserregende Nachrichten aus der Türkei. Die Menschen gehen auf die Straße und protestieren gegen den autoritären Führungsstil von Premier Erdogan. **Gökhan Kula, Investmentchef von Myra Capital, über die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei.

(fw/ah) „Das bis dato sehr positive Stimmungsbild zur Türkei hat sich in den letzten Tagen dramatisch umgekehrt. Die als relativ harmlos gestartete Demonstration von Umweltaktivisten zur Rettung des „Gezi Parks" – einer der wenigen Grünflächen in Istanbul am zentralen Taksim Platz – hat sich durch die gewaltsame Räumung und anschließend eskalierenden Demonstrationen zu einer breiten Bewegung gegen die Regierungspolitik Erdogans und der AKP Partei entwickelt. Das Votum des türkischen Kapitalmarktes auf diese politischen Unruhen war eindeutig und klar: mit dem größten Tagesverlust seit mehr als 10 Jahren hat der türkische Aktienmarktleitindex BIST-30 den „schwarzen Montag" mit einem Minus von 10,3 % abgeschlossen. Die breite Verkaufswelle hat jedoch nicht nur den Aktienmarkt, sondern auch die Anleihen- und Währungsmärkte erfasst. Zinsen für türkische Anleihen stiegen nochmals rasant nach oben, sodass die Rendite für 10-jährige türkische Staatsanleihen wieder über 7 % notiert. Auch die türkische Währung setzte ihren Abwertungstrend der letzten Wochen verstärkt fort, die sich zum Euro auf bis zu 2,47 abgeschwächt hat.

Auf den arabischen folgt nun der „Türkische Frühling"

Es ist überraschend, wie schnell, dynamisch und kraftvoll sich der Widerstand und die Proteste gegen die von Erdogan angeführte AKP Regierung sich in den letzten Tagen entfaltet haben. Überrascht war sicherlich auch die Regierung selbst, der es sichtlich weiterhin schwer fällt, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Anstatt auf die Inhalte der Forderungen einzugehen, werden die Proteste marginalisiert bzw. ausländischen Kräften und Militanten zugeschrieben, die die Türkei destabilisieren wollen – von Einsicht noch keine Spur. Dabei zeigt die breite Partizipation der Bevölkerung an den Protesten – quer durch alle Schichten, allen voran aber der Mittelstand – dass es eben nicht nur um Grünflächen geht, sondern dies der Auslöser für die unter der Oberfläche schlummernde Unzufriedenheit mit dem autoritären Führungs- und Regierungsstil Erdogans zum Vorschein gebracht hat. Doch wie konnte das Stimmungsbild gegen Erdogan so schnell schwanken, zumal die Türkei wirtschaftlich nach wie vor sehr gut dasteht und auch die Bevölkerung daran partizipieren konnte? Nicht zuletzt deshalb konnte Erdogan und seine AKP eindeutige Mehrheiten bei den letzten Wahlen erringen obwohl ein Großteil der AKP-Wähler nicht unbedingt auch AKP-Anhänger sind sondern lediglich den wirtschaftlichen Aufschwung der AKP zuschreiben. Auffällig ist, dass Erdogan in letzter Zeit seine Politik deutlich aggressiver konservativ-islamisch ausgerichtet hat und versucht, zentrale Grundrechte und Freiheiten zu beschneiden.

Angeführt werden die Unterdrückung regierungskritischer Medien und die Inhaftierung einer Vielzahl von Journalisten (Anmerkung: nirgends auf der Welt sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei), die Tendenz der Einschränkung vieler Freiheiten wie beispielsweise der geplante Verbot vom Einzelhandelsverkauf von Alkohol nachts zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr morgens bzw. auch die unverhältnismäßig hart eingreifende Polizei, die u.a. durch Einsatz von Tränengas viele Demonstranten schwer verletzt hat. Es ist ein Aufschrei der Bevölkerung, der die laufenden Einschränkungen ihres Lebensstils nicht mehr hinnehmen möchte und dies auch entsprechend kund tut. Ironisch ist, dass beim arabischen Frühling die Türkei als erstrebenswertes „Gesellschaftsmodell" für islamische Länder gesehen wurde und Treiber der Proteste und auch des erfolgreichen Umschwungs war. Dass nun die Türkei – vor allem nach der herausragenden wirtschaftlichen Entwicklung – selbst einen Frühling erlebt, ist aus unserer Sicht sowohl politisch als auch wirtschaftlich positiv zu bewerten da es der notwendige Bau-stein für den nächsten konsequenten Entwicklungsschritt für die Türkei ist – einem demokratischen Staat, der Meinungsvielfalt zulässt und dadurch auch wirtschaftlich sich erfolgreich weiterentwickeln kann.

Die weitere Entwicklung der Protestwelle und in der Folge des türkischen Kapitalmarktes wird davon abhängen, wie Erdogan auf die anhaltenden Demonstrationen und auf die Forderungen reagiert und die Situation beruhigen kann. Nur durch klare und eindeutige Aussagen und Handlungen werden die Proteste zurückgehen und wieder Ruhe bringen. Erdogan hat gezeigt, dass er bei Krisen auch zurückhaltend und besonnen reagieren kann. Die Syrien-Krise ist ein gutes Beispiel dafür, in dem es weiterhin keinen türkischen Alleingang gibt. Auch aufgrund der defacto nicht existenten Opposition (CHP ist in sich zerstritten) und fehlenden Alternativen sitzt Erdogan zunächst noch fest im Sattel. Nur für den Fall, dass er die Situation weiter unterschätzt, nicht auf die Forderungen eingeht und gegen die demonstrierende Bevölkerung weiter Gewalt einsetzt könnte es eng für ihn werden. Das Militär ist zwar ein Stück weit entmachtet aber kein zahnloser Tiger und beobachtet die Situation um das Erbe von Atatürk mit Argusaugen. Die Aussage vom Staatspräsident Gül, dass die Botschaft der Proteste verstanden worden sei, wirkt aufgrund der Nähe und der Freundschaft von Ex-Parteimitglied Gül zu Erdogan nicht wirklich glaubwürdig und somit auch destabilisierend.

Eines haben die Ereignisse der letzten Tage jedoch eindeutig gezeigt: die Türkei – wie jedes andere Schwellenland auch – trägt eine inhärente politische Risikoprämie, die von den Markt-akteuren in den letzten Monaten mitunter vernachlässigt wurde. Diese ist nun wieder bewer-tungsrelevant zum Vorschein gekommen und wird nicht über Nacht verschwinden. Die türkische Börse ist keine Einbahnstraße, die nur eine Richtung kennt. Auch wenn die Kursverluste kurzfristig schmerzhaft waren bzw. auch die Volatilität anhalten wird, so sind wir davon überzeugt, dass diese Ereignisse mittel- bis langfristig positiv für die türkische Bevölkerung und letztlich für den Kapitalmarkt sein werden. Dass bei Investitionen in einzelne Schwellenländer die Risikokomponente nicht vernachlässigt werden sollte, deckt sich mit unserer Vorgehensweise einer risikokontrollierten Investmentumsetzung und inwiefern politische Börsen kurze Beine haben werden wir noch sehen."

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