Die Türkei im Ausnahmezustand

27.07.2016

Michael Heise

Die politische Stabilität in der Türkei hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert und die Folgen des gescheiterten Putschversuchs sorgen nun für zusätzliche Unsicherheiten. Michael Heise, Chefökonom der Allianz, erklärt:

Von den zahlreichen Festnahmen und Entlassungen waren bisher rund 60.000 Menschen bei Armee und Polizei, in den Medien sowie in Bildung und Verwaltung betroffen. Obwohl Präsident Erdoğan versprochen hat, den Ausnahmezustand ausschließlich zur Verfolgung der Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs zu nutzen, könnte er ihn aber durchaus auch für einen weiteren Schlag gegen die politische Opposition und zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten nutzen. Angesichts dieser aufgeladenen Situation werden sich selbst Erdoğans schärfste Kritiker vorläufig in Zurückhaltung üben. Doch die autokratischen Tendenzen des Präsidenten kommen keineswegs überraschend und auf längere Sicht werden Gegenreaktionen unter den 50 Prozent der türkischen Bevölkerung, die Erdoğan nicht gewählt haben, kaum ausbleiben. Politische Stabilität wird es daher auch mittelfristig nicht geben. Die EU könnte auf die Säuberungswelle mit einer Aussetzung der Beitrittsverhandlungen reagieren, ,insbesondere wenn Ankara die Todesstrafe wieder einführen sollte. Für den wirtschaftspolitischen Kurs der Türkei würde dies nur bedingt Auswirkungen haben, da die Verhandlungen bereits seit Jahren kaum Fortschritte gemacht haben. Für das geschäftliche Umfeld relevanter ist aber die starke Konzentration der Regierung auf Sicherheitsfragen sowie die geschwächte administrative Kapazität, da die Säuberungen auch staatliche Stellen wie zum Beispiel das Finanzministerium betreffen. Es ist im derzeitigen Umfeld noch jetzt unwahrscheinlicher, dass die Türkei ihre Gesetzgebung zur Bekämpfung des Terrorismus überarbeitet – doch genau dies ist eine Voraussetzung für die Liberalisierung der Visabestimmungen, die die EU im Flüchtlingspakt für Oktober versprochen hat. Solange die Balkanroute geschlossen bleibt, ist es allerdings unwahrscheinlich, dass auch bei einem Scheitern des Abkommens eine neue Flüchtlingswelle auf Westeuropa zurollt. Erdogans wiederholten Forderung nach einer Auslieferung von Fethullah Gülen könnten Spannungen zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten weiter verschärfen. Die innere Sicherheit der Türkei könnte sich angesichts einer stark geschwächten Armee und den zu erwartenden Verstimmungen zwischen der Türkei und ihren NATO-Verbündeten noch weiter verschlechtern. Auch das Vorgehen gegen den IS in Syrien und im Irak könnte beeinträchtigt werden. Dies ist nicht im Interesse der Vereinigten Staaten.

Wirtschaftliche Folgen

Wie stark die wirtschaftlichen Folgen sein werden, ist derzeit noch nicht abzusehen. Zweifellos stellen der gescheiterte Putsch und die innenpolitischen Reaktionen aber einen signifikanten Vertrauensschock dar, der die ohnehin schon herausfordernde wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den externen Finanzierungsbedarf der Türkei. Die nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften des Landes sind in hohem Maße auf ausländisches Kapital angewiesen. Knapp 60 Prozent ihrer Schulden lauten auf Fremdwährungen. Darüber hinaus verzeichnet die Türkei schon seit Jahren hohe Leistungsbilanzdefizite, die maßgeblich durch kurzfristige Kapitalzuflüsse finanziert worden sind. Für das laufende Jahr erwarten wir ein Leistungsbilanzdefizit in Höhe von rund vier Prozent des BIP. Insgesamt entspricht der diesjährige externe Finanzierungsbedarf mehr als einem Viertel des BIP – für ein Schwellenland ist dies ein hoher Wert. Der versuchte Umsturz und seine politischen Folgen werden das Wirtschaftsklima und die Investitionstätigkeit belasten. Zudem werden internationale Investoren möglicherweise eine Neueinschätzung der politischen Risiken in der Türkei vornehmen. Die Ratingagentur Standard & Poor's hat jüngst die Bonitätsbeurteilung des türkischen Staates gesenkt und die neue Beurteilung mit einem negativen Ausblick versehen. Die Wirtschaftspolitik dürfte voraussichtlich expansiver werden, um die wirtschaftlichen Folgen zu begrenzen. Allerdings ist nach unserer Auffassung der Zinssenkungsspielraum seitens der Zentralbank begrenzt, da die türkische Lira durch niedrigere Zinsen noch weiter geschwächt würde, was wiederum einen steigenden Schuldendienst des Unternehmenssektors mit sich brächte. Vor den Ereignissen des vergangenen Wochenendes hatten wir für die Türkei ein reales Wirtschaftswachstum von drei Prozent in diesem Jahr prognostiziert – ein ohnehin eher geringer Wert für ein Schwellenland mit hohem Bevölkerungszuwachs. Sobald erste verlässliche Konjunkturdaten für die Zeit nach dem Putschversuch vorliegen, werden wir unsere BIP-Prognose höchstwahrscheinlich nach unten revidieren. Der größte Unsicherheitsfaktor ist in nächster Zeit vor allem die äußerst angespannte politische Situation, die weiter sehr genau beobachtet werden muss.

Ein Kommentar von Michael Heise, Chefökonom der Allianz

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