Zwischen kurz- und langfristigen politischen Lösungen

03.07.2018

Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG / Foto: © Bank J. Safra Sarasin

Verkehrte Zeiten – die Intensität der aktuellen politischen Diskussionen zwischen den Regierungsparteien in Deutschland übersteigt um ein Vielfaches die des letzten Bundestagwahlkampfes. Diskutiert wird über ein politisches Problem wie die Flüchtlingskrise, deren Hochpunkt bereits hinter uns liegt. Im Kern geht es bei dem aktuellen Disput nun um die Frage, ob für die noch ungelösten Probleme eine kurz- oder langfristige Lösung, eine nationale oder multilaterale Lösung gefunden wird. Die von Kanzlerin Merkel verhandelte europäische Lösung würde lange brauchen, bis sie effektiv umgesetzt werden kann. Der Ansatz von CSU-Chef Seehofer, Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen zu können, würde die Probleme der südeuropäischen Staaten vergrössern, könnte aber kurzfristige und sichtbare Erfolge in Bayern zeigen. Dass es dabei um eine bessere Ausgangsposition für den anstehenden Wahlkampf in Bayern geht, ist nur eine Erklärung. Eine andere ist, dass das allgemeine Vertrauen in langfristige und multilaterale Lösungen schwindet.

Die vergangenen Jahrzehnte kannten vor allem eine Richtung: Eine vertiefte europäische und weltwirtschaftliche Integration, bei der nationale Grenzen eine immer geringere Rolle spielten. Über globale Wertschöpfungsketten und eine Intensivierung des Welthandels konnten Effizienzgewinne realisiert werden, die die Armut in vielen Ländern massiv gesenkt haben. Internationale Organisationen und multilaterale Kooperationen haben dieser Globalisierung den entsprechenden Ordnungsrahmen beschert. Dieser ist aktuell von vielen Seiten in Gefahr. Sowohl die Wahl für Brexit als auch für US-Präsident Trump wurde von vielen als Geschichtsunfälle interpretiert, die es auszusitzen gilt und die reversibel sind. Es zeigt sich immer mehr, dass sie es nicht sind, sondern Schule machen und Nachahmer finden. In Italien, Mexiko, Polen, Ungarn. Dass der Populismus und Nationalismus just zu der Zeit aufstrebte, in der die Weltwirtschaft sich wieder von der grossen Finanzkrise erholt hat und die Arbeitslosenquoten stark gefallen sind, zeigt, dass sie nicht nur wirtschaftliche Gründe haben. Aber sie werden wirtschaftliche Konsequenzen haben, an die sich auch die Finanzmärkte gewöhnen müssen. Die Handelskonflikte mögen dafür ein Beispiel sein.

Wie bei der in Deutschland diskutierten Frage, wie die Zuwanderung für die Menschen und die Gesellschaft akzeptabel organisiert werden kann, geht es häufig um ein Abwägen zwischen internationalen und kooperativen Lösungen oder nationalen Alleingängen. Kurzfristig scheint das Beharren auf nationalen Antworten, den eigenen Interessen am stärksten gerecht zu werden. Die neue Handelspolitik von US-Präsident Trump findet daher innenpolitisch Zustimmung. Sie signalisiert rasche an den Bedürfnissen orientierte Lösungen. Vor den Kongresswahlen im November halten wir es daher für unwahrscheinlich, dass es zu einer Deeskalation der aktuellen Handelskonflikte kommt. Multilaterale Lösungen sind schwieriger. Sie müssen die Interessen vieler Parteien in Einklang bringen und machen so Kompromisse notwendig. Ihr Wert ist daher kurzfristig auch nicht immer für alle greifbar. Manchmal liegt er auch einfach in einem stärkeren Vertrauen zwischen Handelspartnern, zwischen Alliierten und zwischen Kreditnehmern und -gebern. Vor allem ausländische Investoren bauen auf Vertrauen in das Rechtssystem eines anderen Landes. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit erodieren genau dieses Vertrauen. Manchen ist das nicht unrecht. Es ist nicht zufällig und auch nicht widersprüchlich, dass sich populistische Politiker vieler Länder gegenseitig unterstützen, obwohl sie jeweils die Interessen ihrer eigenen Länder viel stärker als andere gegen ausländische Kräfte verteidigen. Was sie eint, ist der Wunsch nach der Renationalisierung der Politik, selbst wenn dies wie im Falle von Brexit nicht die versprochenen wirtschaftlichen Vorteile bringen wird.

Politiker der traditionellen Lager müssen in manchen Ländern einen Vorwurf akzeptieren: So wie ausländische Investoren, Vertrauen in die Rechtssicherheit eines anderen Landes brauchen, so benötigen die eigenen Bürgerinnen und Bürger es auch. In Zeiten, in denen Regulierungen und Gesetze verstärkt auf internationaler Ebene verhandelt und entschieden werden, sind verstärkt vertrauensbildende Massnahmen in eben diese Institutionen notwendig, in denen politische Entscheidungen vorbereitet werden. Das Gegenteil ist häufig der Fall gewesen. Statt zu erklären, wie nationale Anliegen multilateral gelöst werden und welche Restriktionen, aber auch Vorteile damit einhergehen, haben sich viele Politiker darauf beschränkt, internationalen Institutionen die Schuld für vermeintliche Missstände und Veränderungen zu geben. So erodieren in Deutschland viele das Vertrauen in die EZB, in dem sie suggerieren, dass diese für die niedrigen Kapitalerträge deutscher Sparer verantwortlich sei. In anderen Ländern wird sie für die Schwäche der eigenen Exportindustrie kritisiert. In beiden Beispielen wäre es sinnvoller gewesen, frühzeitig zu erklären, wie die wirtschaftlichen Anpassungsmechanismen innerhalb in einer Währungsunion im Vergleich zu einem nationalen Währungsraum funktionieren und was die Aufgabe der Geldpolitik in diesem System ist.

Es mag eine Ausnahme im gegenwärtigen politischen Umfeld geben: Der französische Präsident Macron hat in seinem Wahlkampf die Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Veränderungen transparent dargestellt und sich so mit einem Reformauftrag ausstatten lassen. Mit welchem Wahlauftrag die deutsche Regierung ausgestattet ist, mag dagegen wohl kaum eine Wählerin oder Wähler sagen. Die aktuelle politische Kontroverse in Berlin gibt aber einen Vorgeschmack darauf, worum es in zukünftigen Wahlkämpfen in Europa verstärkt gehen wird – um nationale versus europäische Lösungen für die Probleme unserer Zeit.

Kolumne von Karsten Junius, Chefökonom Bank J. Safra Sarasin AG