Wie fragil ist das System?

07.11.2016

Rolf Ehlhardt

Dr. Bert Flossbach glossiert die Situation kurz und trocken: „Negative Zinsen sind ein Ausdruck von Verrücktheit. Sie widersprechen dem gesunden Menschenverstand“. Sind die Notenbänker und Politiker nur noch Marionetten der Finanzeliten?

Freie Kapitalmärkte gehören der Vergangenheit an. Die Notenbanken manipulieren in allen Segmenten. Die japanische Notenbank legt den zehnjährigen Zins bei null Prozent fest. Die EZB erkauft den Zins in Richtung Null. Die Schweizer Notenbank hortet Aktien. Alles mit gedrucktem Geld. Die FED ist wohl in fast jeder Börsensitzung aktiv. Sie droht seit Jahren mit der Zinswende. Aber außer einem Viertelchen hat sie bisher nichts zustande gebracht. Die Kritik gegen die Notenbankenpolitik wird unüberhörbar laut. Das Vertrauen in deren Handeln schwindet. Nach jeder Sitzung etwas mehr.

Schluss mit den Überlegungen: Welche Bonität hat Italien, was verdient die BASF pro Aktie. Es gilt nur noch die Frage: Was kaufen die Notenbanken. Der Preis eines Wertpapiers zeigte früher den Wert an. Die Börsen haben als Wertmesser und der Zins für die Einstufung der Bonität ausgedient. Risikolose Altersvorsorge wird es daher vorerst nicht mehr geben. Ironischerweise warnt uns die Politik vor Altersarmut, die sie selbst erzeugt bzw. zulässt. Sie warnt uns quasi vor sich selbst.

Notenbanken und Politiker schaffen Gesetze, die sie dann selbst umgehen. Laut Prof. Werner Sinn wurde der Stabilitätspakt seit 1996 schon 165 mal gebrochen. Der Bruch der Maastricht-Kriterien ist schon fast so alt wie das Gesetz. Das Verbot der Finanzierung von unsoliden Staaten durch die EZB wird genauso gewissenlos umgangen, wie das Bail-in Gesetz in Italien. Laissez-faire im Gesetzbuch.

Lagarde, Juncker oder Hollande erklären öffentlich, dass man das eine oder andere Gesetz nicht so ernst nehmen sollte. Renzi weist aktuell darauf hin, dass er den Haushaltsetat mit hohem Defizit selbst dann nicht überarbeitet, wenn er damit gegen die EU-Fiskalregeln verstößt. Warum auch. An Gesetze hält sich kein Land. Und die EZB finanziert doch alles. Und die Mainstream-Presse berichtet relativ kritiklos. Ein Hoch auf die Pressefreiheit.

Dies alles ist natürlich „ein gefundenes Fressen“ für Verschwörungstheoretiker und Systemkritiker. Zumal Aufsichtsorgane wie Bundesverfassungsgericht oder die Bafin hilflos wirken. Die systemrelevanten Banken schummeln und spekulieren auf Teufel komm raus. Regierungen kaufen geklaute CDs (Hehlerei?). Ist die Gesamtsituation wirklich schon der Anfang vom Ende. Eine Erkenntnis ist klar: So kann es nicht weitergehen! Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.

Eine einfache und schmerzlose Lösung wird es nicht mehr geben. Wir haben uns in eine Situation hineinmanövriert, in der die Umkehr fast genauso gefährlich ist, wie das Weitermanchen. Das allergrößte Hindernis stellt die Überschuldung etlicher Staaten dar. Die macht zum Beispiel eine Zinswende unmöglich. Allein der ZinsesZins-Effekt würde diese Länder in die völlige Zahlungsunfähigkeit treiben. Ein weiteres Hemmnis ist die Erfahrung, dass die Politiker, die unpopuläre Maßnahmen ergreifen, damit ihre letzte Legislaturperiode einläuten. Diesen Schuh muss sich der Wähler anziehen lassen.

Absolut ungeeignet ist auch eine Lösung über eine Abwertung der Währung. Wie soll zum Beispiel Italien seine Nicht-Konkurrenzfähigkeit ausgleichen, wenn über einen schwachen Euro deutsche Produkte auch preiswerter werden? Eine schwache Währung hat ebenso wie das dauerhafte Gelddrucken noch nie Wohlstand erzeugt. Sonst wäre im Länderranking nicht die Schweiz vorne, sondern Simbabwe. Es würde sich ja auch kein Leichtathlet vor dem Lauf ins Knie schießen, um damit seine Gewinnchancen zu erhöhen.

Die Politik und Notenbanken müssen über Ehrlichkeit das Vertrauen des Volkes wieder zurückgewinnen. Sie müssen das umsetzen, was sie den Wählern versprechen. Sie müssen deutlich machen, dass sie die Probleme erkannt haben und nun gewillt sind, diese anzugehen. Auch mit dem Hinweis, dass diese Maßnahmen zunächst sich nachteilig für den Einzelnen auswirken können. Gesetze, die sich als zu starr erwiesen haben (zum Beispiel: kein Land kann aus dem Euro austreten), müssen ratifiziert werden. Grundregeln müssen eingehalten werden. Nur eine gemeinsame Währung ist nicht ausreichend, weil die Ungleichgewichte der Volkswirtschaften die Währung irgendwann wieder auseinanderreißt.

Das wichtigste von allen: Wir müssen damit anfangen. Nicht morgen. Heute. Gestern wäre besser gewesen.

Kolumne von Rolf Ehlhardt, Vermögensverwalter, I.C.M. Independent Capital Management Vermögensberatung Mannheim GmbH