Sand in die Augen streuen

11.10.2015

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In gut einem Jahr soll die zweite Stufe der Pflegestärkung durch den Bund zünden. Sie wird für viele Pflegebedürftige und ihre betreuenden Angehörigen ein Mehr an Leistungen bringen, könnte den Bundesbürgern aber auch Sand in die Augen streuen. Denn keinesfalls wird die private Pflegevorsorge dadurch unwichtiger. Erforderlich wäre dafür ein grundsätzliches Umdenken. Das aber wird es kaum geben.

Zum Jahresanfang ist das Pflegestärkungsgesetz 1 in Kraft getreten und hatte einige Leistungsverbesserungen in der häuslichen Pflege und für Demenzkranke gebracht. Zudem wurde ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet. Nun steht das Pflegestärkungsgesetz 2 ins Haus. Damit soll noch in dieser Wahlperiode der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren eingeführt werden. Das Gesetz soll zum 1. Januar kommenden Jahres in Kraft treten, jedoch erst ab Januar 2017 wirksam werden. Diese Zeitspanne ist erforderlich, um beispielsweise ein neues Begutachtungsverfahren einzuführen. Zudem müssen die Gutachter in die Fortbildung. Die bisherige Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen und Demenzkranken soll wegfallen. Im Zentrum steht der individuelle Unterstützungsbedarf jedes Einzelnen.

Dadurch wird die Pflegeversicherung auf eine neue Grundlage gestellt.

Statt der bisherigen drei Pflegestufen wird es künftig fünf Pflegegrade geben. In Pflegegrad 1 könnten laut Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe schon mittelfristig 500.000 Bundesbürger erstmals unterstützende Leistungen erhalten. Auch dieses Gesetz verteuert den gesetzlich vorgegebenen Versicherungsschutz weiter. Es kommen noch einmal 0,2 Prozentpunkte obendrauf. Laut Bundesministerium für Gesundheit steht damit unter dem Strich ein erfreuliches Ergebnis für die Deutschen: „Dadurch stehen 5 Mrd. Euro mehr pro Jahr für Verbesserungen der Pflegeleistungen zur Verfügung. 1,2 Mrd. Euro fließen in einen Pflegevorsorgefonds. Insgesamt können die Leistungen aus der Pflegeversicherung um 20 % erhöht werden.“ Tatsächlich gibt es einiges Erfreuliches über die bessere Berücksichtigung der Lebenssituation hinaus in diesem Gesetz. So zahlen die Pflegekassen betreuenden Angehörigen, die deswegen aus ihrem Beruf aussteigen, künftig dauerhaft die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung – und nicht nur wie bisher sechs Monate lang. Pflegt ein Familienangehöriger mindestens an zwei Tagen in der Woche insgesamt zehn Stunden lang, werden auch seine Beiträge zur Rentenversicherung übernommen. Zudem soll der Eigenanteil von Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen gedeckelt werden und nicht mehr mit zunehmender Pflegestufe steigen. Beim Pflegestärkungsgesetz 2 soll es jedoch nicht bleiben, Schon ist die Nummer 3 angedacht, hinter vorgehaltener Hand munkelt man in Berlin sogar schon von den Nummern 4 und 5. Robert Zimmerer, Geschäftsführer der IME Initiative MarktErfolg UG, hält noch anderes für notwendig: „Richtig mutig wäre es, dass der Gesetzgeber ein klares und offenes Bekenntnis für private Zusatzversorgung macht und diese gegebenenfalls auch in ähnlicher Weise wie in der Altersrente fördert. Und außerdem eine betriebliche Pflege-Vorsorge.“

Für den Vertrieb bedeutet das Pflegestärkungsgesetz eine echte Herausforderung.

Zusammen mit den zu erwartenden Anpassungen rückt nämlich die Kundenoption auf einen Wechsel in einen neuen Tarif des Versicherers und damit die leistungsmäßige Gestaltung neuer Tarife in den Vordergrund. Klar ist, dass sich im Bestand für Kunden, die sich nicht von Bewährtem trennen wollen, nichts ändert. Wer allerdings wechseln will, stößt bei den Versicherern auf unterschiedlichen Service: Gibt es das Recht auf Umstellung vielleicht nur im Top-Tarif? Fällt mit der Umstellung eine erneute Gesundheitsprüfung an? Sieht das Optionsrecht überhaupt den Begriff „eingeschränkte Alltagskompetenz“ vor, wie ihn das neue Gesetz definiert? Und gilt dies für alle psychischen Erkrankungen und nicht nur für Demenz? Was ist mit denjenigen Kunden, die bereits Pflegeleistungen erhalten? …

… eine Menge Fragen, mit denen sich Makler rechtzeitig auseinandersetzen sollten.

Möglicherweise könnte sich aber auch noch eine ganz andere Frage eröffnen: Besteht nicht die Gefahr, dass der Vertrieb unter dem Pflegestärkungsgesetz 2 leiden wird, weil sich mit dessen Inkrafttreten 2017 noch mehr Menschen einzig auf die verpflichtende soziale Pflegeversicherung verlassen werden? Christoph Lampe, Abteilungsleiter Produktmanagement Komposit, Kranken und Pflege bei der Swiss Life Deutschland Vertriebsservice GmbH, sieht das anders: „Ich glaube, das Gegenteil wird der Fall sein. Das Thema wird in aller Munde sein. Es liegt an uns, auf die immer noch bestehenden deutlichen Lücken hinzuweisen.“ Auch Sybille Schneider, Sprecherin der ERGO Versicherungen, ist eher optimistisch: „Wir glauben nicht, dass die Menschen in diesem Maße allein auf die soziale Pflegeversicherung vertrauen. Drei Viertel der Menschen halten es für wichtig, neben der gesetzlichen Pflegeversicherung auch privat vorzusorgen. Das hat unsere DKV-Pflegestudie ergeben. Ich glaube nicht, dass sich dieses klare Meinungsbild durch das Pflegestärkungsgesetz 2 stark ändern wird.“ Ganz anders hingegen Dr. Stefan M. Knoll, Vorstand der DFV Deutsche Familienversicherung AG: „Das ist schon jetzt der Fall, und diese Zurückhaltung dürfte sich vorerst fortsetzen.“ Dabei streue die Politik mit der aktuellen Werbekampagne zum neuen Gesetz den Menschen wieder nur Sand in die Augen. Und rolle sich selbst den roten Teppich aus. Mit immer neuen Leistungsversprechen erwecke sie den Eindruck, sie habe alles im Griff und die Menschen brauchten selbst nichts mehr zu tun. Sie verschweige weiterhin, dass die gesetzliche Pflegeversicherung auch künftig immer nur eine „Teilkaskoversicherung“ sei. Und dass die Menschen im Pflegefall auf hohen Kosten sitzenblieben, wenn sie sich allein auf deren Leistungen verließen. Dr. Knoll: „Sie untergräbt mit ihren fahrlässigen Versprechen nur die wachsende Bereitschaft der Menschen, sich mit dem Thema Pflegebedürftigkeit auseinanderzusetzen und selbst dafür vorzusorgen.“ (hwt)

finanzwelt Special 05/2015 | Pflege