Reine Kalkulation

27.12.2019

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600.000 Kunstwerke werden jährlich auf der Welt gestohlen. Dahinter steckt eine ganze Industrie – den irren Sammler gibt es nur im Kino. Bedroht sind nicht nur private Kunstkäufer, sondern zunehmend auch Firmen, Stiftungen und Family Offices. Und immer häufiger fordern die Diebe für die Rückgabe erbeuteter Werke exorbitante Lösegelder. Ohne Versicherungspolice sind die Betroffenen dem Diebstahl jedenfalls hilflos ausgeliefert.

Die Diebe kamen mal eben so vorbei. Seit acht Jahren ist Renate Weis im Kölner Rheinauhafen, mittlerweile als Partymeile in der Domstadt bekannt, als Galeristin ansässig. Es war das Wochenende eines großen Kölner Weinfestes. Während ihr Mann im Erdgeschoss darauf achtete, dass niemand etwas mitgehen ließ, kümmerte sie sich in der 1. Etage um einen Kunstinteressierten. Oder besser: um einen vermeintlich Kunstinteressierten. Der sollte sie offenbar nur ablenken, während seine „Kollegen“ vier jeweils 30 x 30 cm große Gemälde von der Wand nahmen, vermutlich in Rucksäcke stopften und das Weite suchten. Besonders lukrativ war die Beute nicht – laut Weis etwa 10.000 Euro. Deshalb dürfte auch in der Hehlerszene nur geringe Nachfrage bestehen. Und der Raub kaum jemals aufgeklärt werden. Renate Weis: „Ich habe geglaubt, dass die Polizei da etwas schneller arbeitet.“ Die Galeristin fahndet jetzt auf eigene Faust. Ihr Fall ist exemplarisch.

Täglich wird in Deutschland und überall auf der Welt Kunst gestohlen – mal weniger wertvolle, mal unglaublich kostbare. Ob eine Vogelnest-Nachbildung aus Feingold aus dem Keller einer Grundschule in Berlin, Wert rund 80.000 Euro, die als finanzieller und ideeller Grundstock für die neue Schule dienen sollte. Ob Bilder und Vasen im Wert von mehreren Hunderttausend Euro aus einer Privatbank in der noblen Düsseldorfer Jägerhofstraße. Ob aus dem Oratorio di San Lorenzo in Palermo ein großformatiges Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio, Wert laut FBI etwa 20 Mio. Euro, es gibt aber auch weitaus höhere Schätzungen. Dieser Vorfall von 1969 ist bis heute nicht aufgeklärt und wird von der italienischen Polizei der Cosa Nostra zugeschrieben. Der spleenige Milliardär, der einen solchen Raub in Auftrag gibt, um ein Kunstwerk ganz allein für sich zu haben und sich im Keller seines Anwesens daran zu ergötzen, ist eine Mär aus Hollywood. Vielmehr geht es um handfeste Interessen. Im Fall des verschwundenen Caravaggio sollen Cosa Nostra-Bosse mehrfach versucht haben, gegenüber dem italienischen Staat persönliche Vorteile für sich heraus zu handeln. Und was im Allgemeinen hinter dem Thema Kunstdiebstahl steckt, verlautbart die hierauf spezialisierte Wirtschaftsdetektei Stein in Köln so: „Artnapping ist in den vergangenen Jahren eine neue ernst zu nehmende Form des Kunstraubs geworden. Hierbei haben die Täter eine Möglichkeit entdeckt, mit relativ wenig Risiko das Kunst-Diebesgut in Geld umzuwandeln.“ Kunstwerke würden zunächst von professionellen Tätern gestohlen und anschließend folge die Erpressung des rechtmäßigen Besitzers. Dabei forderten die Täter oft horrende Lösegelder und drohten sogar mit der Zerstörung der gestohlenen Kunstwerke. Nach Zahlung eines Lösegeldes gehe das Kunstwerk meist wieder zurück in den Besitz des Eigentümers.

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