„Viele Websites lassen enorme Umsatzpotenziale ungenutzt“, Interview mit Jonas Reggelin über Neurowebdesign
12.11.2024
Jonas Reggelin, Autor von „Neurowebdesign“ und Geschäftsführer wirkungswerk GmbH & Co. KG
finanzwelt: Herr Reggelin, Sie behaupten, dass fast alle Websites Geld verbrennen. Warum?
Jonas Reggelin: Ja, das klingt erst einmal drastisch, aber die Wahrheit ist: Viele Websites lassen enorme Umsatzpotenziale ungenutzt oder sind sogar ein Minusgeschäft. Sie sehen oft schön aus, aber sie erzielen nicht den gewünschten Erfolg.
finanzwelt: Aber warum? Unternehmen geben schließlich nicht gerade wenig Geld dafür aus.
Reggelin: Das liegt daran, dass die meisten Agenturen an der falschen Stelle ansetzen. Rund 95 % unserer Entscheidungen treffen wir unbewusst, auch wenn wir glauben, rational zu handeln. Die meisten Websites sind jedoch nur auf die sichtbaren, bewussten 5 % ausgerichtet und übersehen damit den Großteil der Entscheidungsprozesse ihrer Nutzer. Das Design richtet sich nach dem eigenen Geschmack oder dem Kundenwunsch, es wird versucht, mit Zahlen, Daten und Fakten zu überzeugen, und die Texte sind so geschrieben, dass sie zwar Google für ein gutes Ranking überzeugen, aber keine Menschen. Verzweifelt wird dann nach den üblichen Metriken wie Absprungrate oder Verweildauer optimiert. Das ist gefährlich, denn diese Metriken liefern letztlich nur eine trügerische Gewissheit.
finanzwelt: Können Sie das genauer erklären?
Reggelin: Natürlich. Nehmen wir die Verweildauer: Sie misst, wie lange ein Nutzer auf der Seite bleibt. Auf den ersten Blick scheint eine hohe Verweildauer gut zu sein – sie deutet an, dass sich die Besucher für die Inhalte interessieren. Doch was, wenn der Nutzer in Wahrheit frustriert ist, weil er nicht findet, was er sucht? Genau hier wird die Verweildauer plötzlich fragwürdig. Man kann eine lange Verweildauer als erfolgreich deuten oder als Problem – je nach Sichtweise bzw. Ursache. Ein weiteres Beispiel ist die Absprungrate. Diese zeigt an, wie viele Besucher die Seite sofort wieder verlassen. Eine hohe Absprungrate deutet darauf hin, dass etwas nicht passt. Aber sie kann auch bedeuten, dass der Nutzer sofort überzeugt war, die gewünschte Handlung ausgeführt hat und deshalb die Seite direkt wieder verlassen hat.
finanzwelt: Wie reagieren Agenturen, wenn sie auf den ausbleibenden Erfolg angesprochen werden?
Reggelin: Sie präsentieren dem Kunden genau diese Metriken. Der Kunde hat nun eine schöne, moderne Website und „positive“ Zahlen vorliegen. Die Folge: Er neigt dazu, an sich selbst oder seinem Produkt zu zweifeln, statt die Website infrage zu stellen. Doch in fast allen Fällen ist die Website einfach nicht darauf ausgerichtet, Menschen auf der unbewussten Ebene anzusprechen. Das erklärt den Misserfolg.
finanzwelt: Was wäre denn die Alternative?
Reggelin: Es reicht eben nicht, eine Seite hübsch zu gestalten – man muss die unbewusste Wahrnehmung der Nutzer lenken. Genau hier setzt das Neurowebdesign an. Wir nutzen psychologische Erkenntnisse, um das Nutzererlebnis so zu gestalten, dass es nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch emotional verbindend ist. Jedes Element auf der Seite, jede Farbwahl und jede Textpassage werden strategisch gewählt, um die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Dabei sind es manchmal winzige Details, die einen verblüffend großen Effekt erzielen können.
finanzwelt: Zum Beispiel?
Reggelin: In einem Online-Shop platzierten wir die 6-stellige Artikelnummer oberhalb des Preises, statt darunter. Diese Änderung hat keine 5 Minuten in Anspruch genommen. Das Ergebnis? Der Umsatz für bestimmte Artikel stieg um bis zu 42 %.
finanzwelt: Das klingt unglaublich. Aber was hat die Artikelnummer mit dem Preis zu tun?
Reggelin: Gar nichts (lacht). Das ist Psychologie. Das Gehirn nutzt die erste Zahl, die es wahrnimmt, oft als „Anker“. Zeigen wir zuerst die lange Artikelnummer, wirkt der darunter stehende Preis für uns fast wie ein Schnäppchen. Selbstverständlich ist uns bewusst, dass zwischen der Artikelnummer und dem Preis nicht der geringste Zusammenhang besteht. Die meisten nehmen die Artikelnummer noch nicht einmal bewusst zur Kenntnis. Doch das spielt keine Rolle – wir können uns gegen solche Effekte nicht wehren. Die Studienlage ist hier eindeutig.
finanzwelt: Wie kommt man überhaupt zu der Hypothese, dass das Verschieben der Artikelnummer einen Effekt haben könnte? Wie entdeckt man solche Details?
Reggelin: Solche Effekte finden wir nicht zufällig. Ich habe in meinen 15 Jahren, die ich mich intensiv mit diesem Thema beschäftigt habe, über 500 Studien analysiert und tausende A/B-Tests durchgeführt, die bestätigt haben, dass selbst kleine Änderungen große Auswirkungen haben – wenn man eben weiß, wie Menschen „ticken“. Dann steht einem ein völlig neuer Werkzeugkasten zur Verfügung, die weit über das hinausgeht, was im Webdesign üblich ist.
finanzwelt: Wie messen Sie den Erfolg einer Website, wenn die klassischen Statistiken kaum Aussagekraft haben?
Reggelin: Es gibt eine Vielzahl an Methoden, mit denen wir das Verhalten der Nutzer verstehen können. Eine besonders interessante Technik, die auf jeder Website einfach eingerichtet werden kann, ist die Videoanalyse der Mausbewegungen und des Scrollverhaltens. Dabei wird jede Bewegung eines Nutzers in Echtzeit datenschutzkonform aufgezeichnet, ohne dass dieser es merkt. Diese Aufzeichnungen geben uns einen sehr präzisen Einblick in das, was den Nutzer interessiert oder wo er möglicherweise verzweifelt ist. Man sieht genau, ob die Maus zögerlich über die Seite wandert, ob sie an bestimmten Stellen stoppt oder die Nutzer gezielt auf etwas zusteuern.
finanzwelt: Das klingt fast unheimlich. Da können Sie also wirklich sehen, wie jeder Besucher sich auf der Seite bewegt?
Reggelin: Genau. Man kann praktisch über die Schulter des Nutzers blicken und verfolgen, wie er sich auf der Seite bewegt. Mit etwas Erfahrung lässt sich aus jeder kleinen Bewegung viel herauslesen: Zögert der Nutzer? Wirkt er verloren? Oder zeigt er klare und gezielte Bewegungen? All diese Details geben uns Hinweise darauf, wie gut die Website auf den Nutzer wirkt und wo Optimierungen nötig sind. Mussten wir vorher bei einer langen Verweildauer noch raten, wie diese zu deuten ist, haben wir jetzt Fakten auf dem Tisch. Jetzt können wir mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit sagen, warum der Nutzer sich so verhalten hat. Aus der Kombination aller Daten lassen sich jetzt Rückschlüsse auf den emotionalen Zustand des Nutzers ziehen. Damit ist die Optimierung einer Website kein Blindflug mehr, sondern basiert auf Metriken, die wirklich über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
finanzwelt: Und wenn es noch keine Website gibt? Ist der Erstaufbau einer Website dann doch ein Blindflug?
Reggelin: Keineswegs. Wir nutzen ein virtuelles Eyetracking, das auf künstlicher Intelligenz basiert und schon vor dem Launch einer Website zeigt, wohin Nutzer voraussichtlich als Erstes blicken werden. Auch die Reihenfolge kann simuliert werden. Diese Technologie wurde vom MIT entwickelt und erreicht eine Genauigkeit von 92 % gegenüber einer traditionellen Eyetracking-Studie, deren Kosten sich oft im hohen fünfstelligen Bereich bewegen. Damit wissen wir, bevor auch nur eine Zeile Code geschrieben wurde, welche Elemente die Aufmerksamkeit der Nutzer auf sich ziehen – und können die Website so programmieren, dass der Fokus später auf den richtigen Elementen liegt.
finanzwelt: Das klingt aber nach Manipulation, oder?
Reggelin: Ich sehe es eher als gezielte Nutzerführung. Als Mitglied der Neuromarketing Science & Business Association habe ich mich einem ethischen Kodex verpflichtet, der sicherstellt, dass wir die Techniken verantwortungsvoll und respektvoll einsetzen. Dazu rate ich allen Webdesignern, die diese Techniken nutzen wollen.
finanzwelt: Der Ansatz des Neurowebdesigns ist in Deutschland aber noch nicht sehr verbreitet, oder?
Reggelin: Nein. In den USA ist man da schon deutlich weiter, weil Marketing dort viel stärker auf Verhaltensforschung und Psychologie setzt. In Deutschland dominiert oft die Überzeugung, dass rationale Entscheidungen dominieren und Zahlen und Daten das Maß aller Dinge sind.
finanzwelt: Ihr Buch „Neurowebdesign“ ist bereits ein Bestseller in der Kategorie Webdesign. Sie scheinen einen Nerv getroffen zu haben. Wächst das Interesse?
Reggelin: Das Buch war ursprünglich gar nicht als Bestseller geplant (lacht) – eher als Wissenssammlung aus den über 500 Studien, die wir in der Agentur ausgewertet haben. Vielleicht ist es gerade das, was den Nerv trifft. Der Erfolg könnte darauf hindeuten, dass viele mit ihrer Website hadern und nach neuen Ansätzen suchen. Besonders freue ich mich, wenn ich höre, dass Leser mit ein paar gezielten Anpassungen bereits positive Veränderungen sehen – oft sogar ohne teuren Relaunch. Es scheint, als hätten wir die richtige Mischung gefunden, um das Beste aus jeder Website herauszuholen, ohne erneut große Investitionen tätigen zu müssen.
finanzwelt: Vielen Dank für das spannende Gespräch, Herr Reggelin!