„Ruhe bewahren“

30.12.2022

Dr. Eduard Baitinger ist seit 2015 Head of Asset Allocation in der FERI Gruppe

Der Blick voraus ist immer interessanter als die Rückschau. Welche Chancen ergeben sich an den Aktien- und Bondmärkten in den kommenden Monaten? Was dürfen wir von den Zentralbanken dies- und jenseits des Atlantiks erwarten? Dr. Eduard Baitinger ist seit 2015 Head of Asset Allocation in der FERI Gruppe und versierter Marktkenner. finanzwelt sprach mit ihm Anfang November.

finanzwelt: Herr Dr. Baitinger, die Notenbanken dominieren das Geschehen. Was erwarten Sie von diesen Akteuren in den kommenden Monaten? Dr. Eduard Baitinger: Vorweg sollte erwähnt werden, dass die EZB sich in einer deutlich schwierigeren Abwägungssituation befindet als die Fed. Die USA kämpfen mit einer klassischen wirtschaftlichen Überhitzung. Die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt sind stark ausgelastet, folglich schlägt sich die hohe Inflation in einem hohen Lohnzuwachs nieder. Es droht eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale. Die Fed hat als Reaktion darauf den Leitzins stark angehoben und befindet sich in der Endphase des Zinsanhebungszyklus. Die Kommunikation von Powell war zuletzt falkenhaft. Folglich können wir für die nächsten beiden Fed-Treffen mit einer weiteren Leitzinsanhebung von insgesamt 100 bis 125 Basispunkten rechnen. Danach könnte die Fed eine abwartende Haltung einnehmen und die vollständige Wirkungsentfaltung der bisherigen Zinsanhebungen abwarten. Die Eurozone hingegen muss als Folge des Energiepreisschocks mit einer klassischen (harten) Stagflation umgehen. Das heißt, man ist gezwungen, den Leitzins – für europäische Verhältnisse – mit einer ‚brutalen‘ Geschwindigkeit anzuheben, während gleichzeitig der Wirtschaft eine harte Rezession droht. Die EZB hat die Zinswende reichlich verspätet initiiert und wird voraussichtlich den Leitzins bei den nächsten drei bis vier Treffen deutlicher anheben als die Fed. Außerdem wird sie im Dezember einen Bilanzabbauplan vorstellen oder in Aussicht stellen. Allerdings dürfte die EZB angesichts der schwierigen konjunkturellen Lage in der Eurozone schon ab Frühjahr 2023 verstärkt über ein Ende des Zinsanhebungszyklus nachdenken. Das heißt, die Chancen sind hoch, dass der Zinsanhebungszyklus der EZB seinen ersten Geburtstag nicht erlebt.

finanzwelt: Aktien als „alternativlos“ zu bezeichnen, das war einmal. Der Zins ist zurück. Wie sehen Sie das Geschehen an den globalen Aktienmärkten? Dr. Baitinger: Dieses Jahr erleben die Aktienmärkte einen ‚perfekten Sturm‘, weil viele negative Faktoren zusammentreffen. Die geopolitischen Schockwellen, welche durch den Ukrainekrieg ausgelöst wurden, haben den Risikoappetit der Anleger nachhaltig gemindert. Zudem haben der Inflationsdruck und die daraus resultierende Notenbankenstraffung über den Zins- und Liquiditätskanal zu steigenden Zinsen geführt, die wiederum starke Bewertungskompressionen bei Aktienmärkten nach sich zogen. Da die Gewinnprognosen dieses Jahr noch nicht signifikant gefallen sind, ist der Großteil der diesjährigen Aktienmarktverluste auf die besagten Bewertungskompressionen zurückzuführen! Schließlich haben die schwache Konjunktur und der zunehmende Margendruck die Gewinnerwartungen der Unternehmen spürbar negativ tangiert. Vor allem die hohen Gewinnmargen der US-Unternehmen, die einen Großteil der globalen Aktienmarktkapitalisierung ausmachen, werden durch den starken US-Dollar und den hohen Lohndruck perspektivisch deutlich nachgeben. Nach vorne betrachtet dürfte der Zinsdruck und der damit einhergehende Druck auf die Bewertungen nachlassen. Angesichts der global forcierten Konjunkturabkühlung und des zu erwartenden Rückgangs der Inflationsdynamik sind stabile oder fallende Zinsen kurz- bis mittelfristig plausibel. Auf der anderen Seite ist die Abkühlung der Unternehmensgewinne, vor allem bei den US-Unternehmen, in der Frühphase und wird erst Anfang 2023 so richtig ‚Fahrt aufnehmen‘ und die Finanzmärkte, vor allem in der ersten drei Quartalen 2023, beschäftigen. Somit haben wir eine komplexe Situation, die von gegenläufigen Effekten bestimmt wird: nachlassender Druck auf die Bewertungen auf der Positivseite, gleichzeitig jedoch eine Belastung über schwache Unternehmensgewinne.

finanzwelt: Welche Segmente sehen Sie am attraktivsten? Dr. Baitinger: In diesem ambivalenten Umfeld empfiehlt es sich, ‚zweigleisig‘ zu fahren. Das schwache Fundamentalumfeld rechtfertigt eine spürbare Gewichtung von defensiven und margenstarken Titeln. Gleichzeitig empfiehlt es sich, in den nächsten Wochen und Monaten selektiv Positionen bei sogenannten zinssensitiven Werten aufzubauen. Diese Werte würden über die Bewertungsseite überproportional von einem tendenziell nachlassenden Zinsdruck profitieren.

finanzwelt: Bereits im Sommer war es auf der anderen Seite an den Anleihemärkten sehr turbulent. Beruhigung ist nicht in Sicht. Inwiefern sollten Investoren die Entwicklung am Bondmarkt genau im Blick behalten? Dr. Baitinger: Der Bondmarkt hat eine wichtige Funktion: Er determiniert im Zusammenspiel mit der Geldpolitik der Notenbanken die Marktzinsen. Diese determinieren nicht nur die Finanzierungskonditionen für Unternehmen, Privathaushalte und den Staat, sondern können – wie zuletzt in Großbritannien beobachtet – das Finanzsystem an den Rand des Kollapses bringen. Folglich haben die Entwicklungen an den Bondmärkten sowohl realwirtschaftliche Effekte als auch Einfluss auf die Finanzmarktstabilität. Aus Anlegersicht, und wie bereits oben angedeutet, determiniert der Marktzins das Konkurrenzverhältnis zwischen Anleihen und Aktien und damit das marktadäquate Bewertungsniveau von Aktien. Eine Beruhigung der Kapriolen an den Bondmärkten hätte somit nicht nur positive Effekte auf die Bondmärkte, sondern würde auch Aktienmärkte entscheidend stützen.

finanzwelt: Zum Abschluss, was geben Sie Anlegern kurz- bis mittelfristig mit auf den Weg? Dr. Baitinger: Ruhe bewahren. Man sollte sich vom aktuellen ‚Alles ist schlecht‘-Newsflow nicht zu hektischen, kurzfristigen und unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Besonders in der aktuellen, fragilen Marktphase sollte man sich klar machen, dass der Gewinn im Einkauf liegt. Damit man aber nicht in ernsthafte Liquiditätsnöte gerät, sollten mögliche Zukäufe wohlüberlegt und von einem konservativen Cash-Management flankiert sein. (ah)