Missverständnisse und veraltete Paradigmen

22.05.2023

Dr. Marc-Oliver Lux - Foto: © Lux & Präuner GmbH & Co.KG

Mit Macht kehrte die Inflation im letzten Jahr zurück und hält seitdem Börsianer, Notenbanker und Verbraucher in Atem. Jüngere Generationen kennen gar kein nennenswert inflatorisches Umfeld. Bei älteren Generationen schürt es Unbehagen und Ängste.

Doch diesmal ist es zumindest nicht die Notenbankpresse, die zu einer inflatorischen Geldschwemme führt, sondern die durch Corona und Russlands Krieg entstandene Ressourcenknappheit (vor allem bei Rohstoffen und Arbeitskräften), die die Preise verteuert. Viele Gesetzmäßigkeiten von früher, die man mit Inflation verbindet, stehen heute in Frage.

 Mehr Geld = mehr Inflation?

Das Preisniveau steigt üblicherweise, wenn es zu viel Geld im Verhältnis zum Angebot von Waren und Dienstleistungen gibt. Oder wie der Ökonom Milton Friedman es formuliert hat: Inflation ist immer ein monetäres Phänomen. Sie kann nur entstehen, wenn die Geldmenge schneller wächst als die Gesamtproduktion. Aber das bedeutet nicht zwangsweise, dass Inflation entstehen muss, wenn die Geldmenge rasant zunimmt. Denn gemäß der Quantitätstheorie des Geldes kommt es darauf an, ob und wie schnell das Geld im Wirtschaftskreislauf zirkuliert. Ein Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit kann den Anstieg der Geldmenge nämlich mehr als kompensieren. Nur wenn diese Verlangsamung der Zirkulation nicht geschieht, führt der Anstieg der Geldmenge bei gleichbleibender Produktion zu einem Preisauftrieb.

Ebenso wie in den ersten Jahren nach der Finanzkrise 2008/2009 ist aktuell jedoch die Umlaufgeschwindigkeit stark zurückgegangen. Das heißt: Das meiste Geld, das die Regierungen und Notenbanken ins System pumpten, hat den Weg in die Realwirtschaft gar nicht gefunden. Die Banken hielten mehr Reserven bei den Zentralbanken, statt mehr Kredite zu vergeben. Die Konsumenten legten das Geld auf die hohe Kante, statt es auszugeben. Seit den 1960er-Jahren gibt es keinen statistisch auffälligen Zusammenhang mehr zwischen Inflation und Wachstum der breiten Geldmenge.

 Mehr Inflation oder mehr Arbeitslosigkeit?

Viele Regierungen denken, sie könnten entscheiden, ob sie niedrige Inflation mit hoher Arbeitslosigkeit, hohe Inflation mit niedriger Arbeitslosigkeit oder ein wenig Inflation mit etwas Arbeitslosigkeit "erkaufen" möchten. Die Vorstellung, es gebe eine Wahlmöglichkeit zwischen beiden, hält sich trotz schwindender Evidenz. Ursprung der eigentlich charmanten Idee ist die Phillips-Kurve, benannt nach dem Ökonomen William Phillips, der 1958 in historischen Daten einen negativen Zusammenhang zwischen Lohninflation und Arbeitslosigkeit festgestellt zu haben glaubte. Wenn die Kapazitäten am Arbeitsmarkt ausgelastet sind und zusätzliche Arbeitskräfte nur schwer zu finden sind, steigen die Löhne und dann die allgemeinen Preise, so die Vorstellung. Erst in 1970er-Jahren geriet dieses Dogma ins Wanken. Die Ausweitung der Geldmenge zur Stimulierung der Wirtschaft führte nicht zum erhofften Erfolg: Inflation und Arbeitslosigkeit kletterten simultan aufwärts. Heute ist von der Kurve nicht mehr viel übrig. Inflation und Arbeitslosenquote weisen keinen signifikanten Zusammenhang auf.

 Inflationsrate falsch berechnet?

Jeder kennt das Phänomen vom Supermarkt, vom Bäcker oder von der Eisdiele: Schon wieder teurer? Die "gefühlte" Inflation ist in der Regel höher als die offiziell gemessene – in der Eurozone macht der Unterschied sogar über fünf Prozentpunkte aus. Das schürt bei einigen den Verdacht, hier würde gezielt manipuliert oder zumindest falsch gemessen. Das Problem ist der Musterwarenkorb der behördlichen Statistiker, über den sich natürlich viel diskutieren lässt. Im Zweifel wird der haushaltseigene Warenkorb immer davon abweichen. Schließlich kommt es darauf an, wieviel man wofür Monat für Monat ausgibt, ob man zur Miete oder im eigenen Haus wohnt etc. Zudem werden auch nur leichte Preiserhöhungen eher wahrgenommen und in Erinnerung behalten als starke Preisrückgänge, wie etwa für Reisen oder für Unterhaltungselektronik. Wie gesagt: Total falsch oder absichtlich manipulativ gemessen wird sicherlich nicht, schließlich werden die Warenkörbe jährlich überprüft und bei Bedarf angepasst.

 Energiepreise = Hauptschuldiger?

Der Ölpreis weckt nicht nur Emotionen sondern auch Inflation. Als Kraftstoff und Heizmittel hat er weiterhin großen Einfluss auf die Energiekosten von Unternehmen und Haushalten. Auch diesmal sprang die Inflationsrate zunächst wegen der Energiekrise in Europa an, die durch die Einstellung der russischen Öl- und Gaslieferungen ausgelöst wurde. Doch inzwischen hat sich der Ölpreis fast wieder halbiert. Für die Notenbanker ist der Ölpreis jedoch uninteressant. Sie achten vielmehr auf die sogenannte Kerninflationsrate, welche die von der Geldpolitik kaum beeinflussbaren Rohstoffpreise konsequent außen vorlässt. Auf fixe Steuern und CO2-Abgaben, die Energiepreise maßgeblich ausmachen, können sie nämlich kaum einwirken. Darüber hinaus hat der Einfluss fossiler Brennstoffe in den letzten Jahrzehnten realwirtschaftlich gesehen spürbar nachgelassen. Dienstleistungen haben heutzutage ein größeres Gewicht im Warenkorb, wohingegen die industrielle Fertigung - auch dank gelungener Bemühungen, ressourcenschonend zu wirtschaften - weniger ölintensiv geworden ist.

Inflation = Gift für die Börse?

Massive Geldentwertung, Hamsterkäufe, Heerscharen quasi-enteigneter Sparer: Mit solchen Übeln wird die Inflation oft in Verbindung gebracht. Entsprechend unbeliebt ist sie auch bei Börsianern. Geprägt ist diese Sichtweise von den Erfahrungen der 1970er-Jahre, als explodierende Teuerungsraten, aber auch gesamtwirtschaftlicher Stillstand herrschte. Damals wurde der Begriff "Stagflation" geprägt. Dieses Phänomen bescherte Aktionären nach Abzug der Inflation herbe Verluste. Aber das bedeutet längst nicht, dass mehr Teuerung verheerend für die Börsen sein muss: Wenn gleichzeitig die Wirtschaft kräftig wächst, überwiegt der positive Effekt auf die Unternehmensgewinne. Da man mit Aktien einen Anteil an materiellen und immateriellen Unternehmenswerten besitzt, gelten sie als vergleichsweise inflationsimmmune Sachwerte. Eine Auswertung des Credit Suisse Research Institute in rund zwei Dutzend Ländern und über hundert Jahre zeigt, dass der reale Aktienertrag nur bei Hyperinflation (also Teuerungsraten jenseits der 20-Prozent-Marke) negativ war.

Unsere Einschätzung: Die Inflationsentwicklung muss man natürlich im Auge behalten. Aber man muss auch nicht panisch werden. Gerade mit Aktien in soliden Unternehmen, die ihre Margen durch Preisanpassungen halten können, kann man gut in einem inflatorischen Umfeld leben.

Kolumne von Dr. Marc-Oliver Lux von Dr. Lux & Präuner GmbH & Co. KG in München