Der Staat hat den Trend verschlafen
09.09.2014
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Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Die eigenen vier Wände sind mehr als eine Bleibe, sie sind das Zuhause für die Menschen. Neue Regeln für barrierefreies Wohnen sollen ermöglichen, dass die ältere Generation in der vertrauten Wohnumgebung bleiben kann, auch wenn sie auf Hilfe und Pflege angewiesen ist. Jedoch gibt es auch einen riesigen Bedarf an zusätzlichen Pflegeplätzen.
Selbstständiges und selbst bestimmtes Wohnen so lange wie möglich. Das ist der Wunsch von vielen. Die Mehrheit von knapp 70 % der Deutschen möchte laut einer Studie von TNS Infratest als Rentner in der eigenen Wohnung leben. Allerdings will sich jeder vierte Bürger damit erst auseinandersetzen, wenn er das Rentenalter erreicht hat. Lediglich 6 % der Befragten weiß derzeit konkret, wie er im Alter leben und wohnen will. Die finanziellen Mittel, um selbstständig in den eigenen vier Wänden bleiben zu können, reichen beim Großteil nicht aus. Dies wiegt umso schwerer, weil ältere Menschen ihrer Wohnung als dem zentralen Lebensort eine immer stärkere Bedeutung beimessen. Mehr als 50 % der Seniorinnen und Senioren halten sich mindestens 20 Stunden pro Tag dort auf. Dennoch sind bisher nur wenige Wohnungen barrierefrei gestaltet.
Um in der vertrauten Umgebung bleiben zu können, müssen staatliche Unterstützungen für Alltagshilfen und Pflegeleistungen in der eigenen Wohnung in Anspruch genommen werden. Laut TNS Infratest fordern fast 90 % vom Staat mehr Beihilfen für betreutes Wohnen oder Fördermittel beziehungsweise steuerliche Anreize für den Bau von Senioren-Wohngemeinschaften. Da der Bedarf an altersgerechten Wohnungen mit der steigenden Lebenserwartung kontinuierlich gewachsen ist, wurden in der Vergangenheit verschiedene Förderprogramme aufgelegt. Eines davon war das vom Bund initiierte Programm „Altersgerecht umbauen", in dessen Rahmen die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Darlehen in Höhe von bis zu 50.000 Euro vergab. Achim Laucke, Vertriebsleiter Marktplatz Pflegeimmobilie, sieht den Staat in der Verantwortung und bemerkt: „Die wichtigste Grundvoraussetzung für altersgerechtes Wohnen ist die Barrierefreiheit. Glaubt man den Erhebungen der Fachwelt, fehlen uns derzeit ungefähr 2,5 Millionen barrierefreie Wohnungen in Deutschland. Die Politik und die Bauwirtschaft haben hier einen klar zu erkennenden Trend verschlafen." Für Dr. Jan Linsin, Senior Director Head of Research Germany CBRE GmbH, hat die Vielzahl von experimentellen Ansätzen nicht dazu geführt, dass ein übergreifendes, integratives Konzept zum altersgerechten Wohnen auf dem Tisch liegt. Gefordert ist vielmehr eine engere Verzahnung wohnungs- und sozialwirtschaftlicher Aspekte. „Ziel ist hierbei die Integration von Wohnen und Leben, von Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe, Bürgerengagement oder auch Genossenschaftsmodellen sowie differenzierter professioneller Angebote, ergänzt um medizinische Versorgung, weitere Angebote (Einkaufsmöglichkeiten) und Kinderbetreuung", so CBRE-Experte Dr. Linsin.
Die Nachfrage nach barrierefreiem Wohnraum wächst, doch der deutsche Wohnungsmarkt ist auf diese Situation nur unzureichend vorbereitet. Laut der Studie „Wohnen 65plus" des Pestel-Instituts fehlen hierzulande 2,5 Millionen altersgerechte Wohnungen. Mittlerweile hat sich ein Bündnis von Bau-, Mieter-, Architekten- und Sozialverbänden formiert, das der Bundesregierung vorwirft, altersgerechtes Wohnen in den letzten Jahren massiv vernachlässigt zu haben. Sie treten für eine jährliche Förderung von 400 bis 500 Mio. Euro ein, um entsprechenden Wohnraum zu schaffen. Dr. Oliver Ehrentraut, Senior Projektleiter Arbeitsmarkt & Soziale Sicherungssysteme bei der Prognos AG, fügt an: „Nach den Ergebnissen der vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) durchgeführten BMVBS-Studie „Wohnen im Alter" aus dem Jahr 2011 leben lediglich 7,7 % der älteren Haushalte mit pflegebedürftigen Personen in entsprechend altersgerecht ausgestatteten Wohnungen. Es besteht somit durchaus Nachbesserungsbedarf, der allerdings nicht nur Geld kostet, sondern auch erhebliche Einsparpotenziale bietet.
Der Wohnungsmarkt für Senioren kränkelt noch an einem weiteren Mangel. Ist die ambulante Versorgung nicht mehr gewährleistet, muss eine stationäre Pflege in Erwägung gezogen werden. Bis zum Jahre 2030 kann von einer starken Zunahme der Nachfrage nach vollstationären Pflegeleistungen ausgegangen werden. Nach Berechnungen von CBRE werden ca. 380.000 zusätzliche Pflegeplätze auf den Markt kommen müssen, um den wachsenden Bedarf der Pflegebedürftigen befriedigen zu können. Das unterstreicht auch Vertriebsleiter Achim Laucke und präzisiert die Angebotsknappheit: „Neben dem Fehlen von Pflegeplätzen kommen noch ca. 100.000 bis 200.000 Plätze hinzu, die nicht mehr marktgerecht sind. Also Heime, die älter als 45 bis 50 Jahre sind und in denen noch 4-Bett-Zimmer ohne eigene Nasszelle vorherrschen. Dies bedeutet, dass der Neubau von ca. 2.000 bis 3.000 Heimen zeitnah notwendig ist, um dem wachsenden Markt und den Pflegebedürftigen gerecht zu werden. Es wird in jedem Fall schwer sein, den derzeitigen und zukünftigen Fehlbestand aufzuholen, da viele ausländische Investoren die gesetzlichen Vorschriften und Auflagen in Deutschland scheuen."
Die Hoffnung ruht nun wieder auf den staatlichen Schultern, da den Pflegekassen mit der verabschiedeten Reform der Pflegeversicherung mehr Geld zur Verfügung steht. Das soll dann den Pflegeunternehmen zugute kommen, einhergehend mit einer besseren Bezahlung des Pflegepersonals. Die demografischen Verläufe vollziehen sich natürlich nicht nach einem festgelegten Muster, sondern von Bundesland zu Bundesland verschieden mit entsprechenden Auswirkungen auf die Nachfrage nach vollstationären Pflegeeinrichtungen. „Den größten Zuwachs an vollstationären Pflegeeinrichtungen werden die Flächenstaaten und zugleich bevölkerungsreichsten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben", sagt Dr. Linsin.
Fazit
Die Politik hat in der Vergangenheit zu wenig getan, um altersgerechtes Wohnen nach vorne zu bringen. Es mangelt an tragfähigen kohärenten Konzepten und an Förderungsgeldern. Im vollstationären Bereich sind viele Pflegeheime veraltet und entsprechen nicht mehr den Bedürfnissen der Heimbewohner. Neue Anreizstrukturen müssen geschaffen werden, um den Fehlbestand abzubauen, die Nachfrage zu befriedigen und den Pflegebedürftigen ein „Wohlfühlgefühl" zu vermitteln. (ah)