Ambiguitätstoleranz: In mehrdeutigen Situationen handlungsfähig bleiben
30.08.2024
Managementberaterin Barbara Liebermeister - Foto: © Barbara Liebermeister - Erfolgsfaktor Mensch
In der modernen (Arbeits-)Welt stehen Führungskräfte immer wieder vor Fragen, auf die es noch keine klaren Antworten gibt; zudem vor Herausforderungen, für die es noch keine eindeutigen Lösungen gibt. Dann sollten sie panisch reagieren, sondern möglichst gelassen bleiben. Das kann man lernen.
In der sogenannten VUKA-Welt verändert sich aufgrund
- der fortschreitenden Digitalisierung und des rasanten technischen Fortschritts sowie
- politischer und gesellschaftlicher Ereignisse gefühlt ständig etwas – und zwar nicht selten fundamental.
Deshalb sind Führungskräfte zunehmend mit Situationen konfrontiert, die nicht eindeutig, sondern mehrdeutig sind, was ihnen das Entscheiden und Planen erschwert; so zum Beispiel, weil noch nicht absehbar ist,
- wie sich der (Arbeits-, Finanz-)Markt entwickelt,
- welche technischen Problemlösungen es in naher Zukunft geben wird,
- welche strategischen Grundsatzentscheidungen der Vorstand aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen treffen wird,
- welche Ressourcen dem Bereich künftig zur Verfügung stehen.
In einer solchen Situation, in der man als Führungskraft seine Entscheidungen oft nur auf mehr oder weniger begründete Annahmen stützen kann, wird die sogenannte Ambiguitätstoleranz – also Fähigkeit, mit Unsicherheiten, Widersprüchen und Unklarheiten umzugehen – zu einer erfolgsentscheidenden Kompetenz.
Ambiguitätstoleranz wird unverzichtbar
Der Begriff Ambiguitätstoleranz bezeichnet die Fähigkeit einer Person, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen, obwohl es noch keine eindeutigen Antworten und glasklaren bzw. gesicherten Lösungen gibt. Diese Kompetenz ermöglicht es Menschen, in komplexen, dynamischen und widersprüchlichen Situationen
- ruhig und gelassen zu bleiben und
- trotz aller Unwägbarkeiten zu entscheiden und ins Handeln zu kommen.
Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz reagieren in solchen Situationen seltener oder weniger schnell nervös, gestresst und überfordert, als Personen, bei denen diese Kompetenz weniger stark ausgeprägt ist, weil sie in der Lage sind,
- die Ist-Situation aus verschiedenen Perspektiven bzw. Blickwinkeln zu betrachten,
- allein oder mit der Unterstützung anderer Personen (vorläufige) Lösungen für sich abzeichnende oder gar bereits vorhandene Probleme zu finden und
- bei Bedarf schnell und flexibel auf Unvorhergesehenes zu reagieren.
Außerdem haben sie ein Grundvertrauen „Irgendwie schaffe ich …“ bzw. „… schaffen wir es schon“, weshalb sie in mehrdeutigen Situationen nicht nur die hieraus resultierenden Probleme und Gefahren, sondern auch die (eventuellen) Chancen sehen.
Ambiguitätstoleranz: eine Schlüsselkompetenz im digitalen Zeitalter
Über diese Fähigkeit bzw. Kompetenz zu verfügen, wird für Führungskräfte in der VUKA-Welt sowie im digitalen Zeitalter immer wichtiger, da sich in ihnen
- die betrieblichen Erfordernisse und beruflichen Anforderungen sowie
- die Art und Weise, wie wir arbeiten (und leben), oft grundlegend verändern.
Diese Veränderungen gehen stets mit Unsicherheiten einher, die auch die traditionellen Strukturen und Prozesse sowie Problemlösungen in den Unternehmen in Frage stellen. Dies sei an drei Beispielen illustriert:
1. Agile Arbeitsmethoden und digitale Transformation:
In vielen Unternehmen bzw. Unternehmensbereichen ersetzen heute agile Arbeitsmethoden die traditionellen Hierarchien und starren Prozesse. Diese Flexibilität führt auch zu Unsicherheit, da die Rollen und Verantwortlichkeiten nicht immer klar definiert sind. Führungskräfte müssen in der Lage sein, mit dieser Unklarheit umzugehen und ihre Teams durch den Wandel zu führen, ohne sich von der Ambiguität verunsichern zu lassen.
2. Künstliche Intelligenz und Automatisierung:
Der verstärkte Einsatz von KI und Automatisierungstechnologien wirft zahlreiche Fragen über die Zukunft der Arbeit und die Rolle der Menschen in der Wirtschaft auf. Die Antworten auf sie sind oft widersprüchlich und unklar. Führungskräfte müssen in der Lage sein, mit solchen Unsicherheiten zu leben und ihre Teams darauf vorzubereiten, in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt beruflich erfolgreich zu sein.
3. Globalisierung und kulturelle Diversität:
Aufgrund der zunehmenden globalen Vernetzung gibt es in den Unternehmen vermehrt Arbeits- und Projektteams, die aus Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen bestehen. Unterschiedliche Wertvorstellungen, Kommunikationsstile und Erwartungen bewirken jedoch oft auch Missverständnisse und Unsicherheiten, die nicht selten die Zusammenarbeit erschweren. Führungskräfte mit einer ausgeprägten Ambiguitätstoleranz sehen in der Diversität jedoch trotzdem primär die Chance, neue, kreativere Lösungen zu finden und das Unternehmen fit für die Zukunft zu machen.
Tipps für Führungskräfte im Umgang mit Ambiguität
Die erfreuliche Nachricht für Sie als Führungskraft ist: Ambiguitätstoleranz ist eine Fähigkeit, die man entwickeln und bei sich selbst und anderen Personen stärken kann. Wenn Sie in mehrdeutigen Situationen Entscheidungen treffen und Ihren Mitarbeitern Halt und Orientierung geben müssen, sollten Sie folgende Handlungsstrategien anwenden:
1. Akzeptanz von Unsicherheit:
Der erste Schritt für einen zielführenden Umgang mit Ambiguität ist, die Unsicherheit zu akzeptieren. Akzeptieren Sie als Führungskraft, dass nicht alle Fragen sofort (ein für alle Mal) geklärt werden können und erzwingen Sie nicht (um Tatkraft zu zeigen) vorschnell irgendwelche Antworten oder Lösungen. Diese Akzeptanz schafft den erforderlichen Raum für kreative und innovative Lösungsansätze.
2. Kritisches Denken und Perspektivenvielfalt fördern:
Als Führungskraft sollten Sie verschiedene Perspektiven in die Entscheidungsprozesse einbeziehen und Ihre Teams ermutigen, kritisch und abseits der tradierten Wege zu denken. Durch den Austausch unterschiedlicher Meinungen und Ideen können komplexe und diffuse Probleme besser verstanden und kreativere Lösungen entwickelt werden.
3. Kommunikation und Transparenz:
In mehrdeutigen Situationen ist eine offene und transparente Kommunikation wichtig. Sprechen Sie als Führungskraft – soweit dies aufgrund Ihrer Position und Funktion in der Organisation möglich ist – bestehende Unsicherheiten ehrlich an und geben Sie Ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, Fragen zu stellen und ihre Sichtweisen sowie Bedenken zu äußern. Diese Offenheit fördert das Vertrauen und stärkt den Teamgeist.
4. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit:
Die Bereitschaft, sich flexibel neuen Gegebenheiten anzupassen, ist eine Schlüsselkompetenz im Umgang mit Ambiguität. Seien Sie als Führungskraft bereit, sofern nötig, Ihre bisherigen Pläne über Bord zu werfen, um die übergeordneten angestrebten Ziele zu erreichen. Erklären Sie den Kurswechsel Ihren Mitarbeitenden. Dann erachten diese Ihre Flexibilität nicht als Schwäche, sondern als eine nötige Reaktion auf die Rahmenbedingungen.
5. Mentale Resilienz stärken:
Ambiguität bewirkt oft Stress. Deshalb sollten Sie als Führungskraft Techniken zur Stressbewältigung und Förderung der mentalen Resilienz beherrschen und anwenden, um auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Führen Sie zum Beispiel sich und Ihren Mitarbeitenden immer wieder vor Augen, welche Probleme, Sie selbst bzw. Ihre Mitarbeitenden schon lösten, von denen sie zunächst dachten: „Huch, was kommt da auf mich (bzw. uns) zu. Ich befürchte, das schaffe ich (bzw. schaffen wir nicht).“
Die Ambiguitätstoleranz gezielt fördern und erhöhen
Solche sogenannten „mastery experiences“ fördern außer der Selbstwirksamkeit einer Person auch deren Ambiguitätstoleranz, da aus ihnen das Vertrauen erwächst „Irgendwie werde ich das Kind schon schaukeln – auch wenn ich noch nicht weiß wie“. Entsprechendes gilt für Teams.
Fördern Sie deshalb bei Ihrer Personalführung und entwicklung gezielt die Selbstwirksamkeit und Ambiguitätstoleranz der Mitarbeitenden und Teams, die das entsprechende Entwicklungspotenzial haben. Wie? Ganz einfach, indem Sie ihnen immer wieder Aufgaben stellen, bei denen sie zunächst denken „Daran könnte ich bzw. könnten wir scheitern“ … (und ihnen dann im Bedarfsfall die erforderliche fachliche und emotionale Unterstützung gewähren). Hierdurch schupsen Sie Ihre Mitarbeitenden sozusagen in eine Lernspirale, die dazu führt, dass aus ihnen Persönlichkeiten werden, die über die Kompetenzen verfügen, die gute Mitarbeitende in der VUKA-Welt zunehmend brauchen.
Barbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ).