Negative Leitzinsen – die Zweifel nehmen zu

16.08.2016

Stefan Schneider, Chief German Economist und Head of German Macroeconomics Research, Deutsche Bank

Die Debatte, ob negative Leitzinsen (Negative Interest Rate Policy, NIRP) den geldpolitischen Transmissionsmechanismus unterstützen oder ihn belasten, wogt weiter.

Nachdem die BIZ und viele andere – unter anderem auch wir – schon lange vor der ungebremsten Öffnung der geldpolitischen Schleusen und den Nebenwirkungen negativer Notenbankzinsen warnen, hat jetzt auch der Chef der englischen Zentralbank, Mark Carney, negativen Zinsen eine klare Absage erteilt, obwohl er nach dem Brexit-Schock mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, ein Abgleiten der britischen Wirtschaft in die Rezession zu verhindern. Sein im August auf den Weg gebrachtes Maßnahmenpaket hat die Markterwartungen deutlich übertroffen, Minuszinsen hat Carney aber mit Hinweis auf die negativen Auswirkungen auf die Kapitalmärkte ausgeschlossen. Die Analysten des IWF dagegen verteidigen die negativen Einlagenzinsen der EZB, nicht zuletzt weil sie ähnlich wie die EZB die mittlerweile fast eine Dekade anhaltende Wachstumsschwäche der Eurozone immer noch in keynesianischer Manier als ein Problem mangelnder Nachfrage interpretieren, dem mit expansiver Fiskalpolitik und extrem lockerer Geldpolitik zu begegnen sei. In dem aktuellen Bericht zur Eurozone beschreibt der IWF eine insgesamt positive Wirkung von NIRP dank lockerer Finanzierungsbedingungen und einer moderaten Expansion der Kreditentwicklung. Ein weiteres Plus bringt NIRP – laut IWF – durch den sogenannten Signal-Kanal. Über diesen kann eine Notenbank die sehr langfristigen geldpolitischen Erwartungen des Marktes manipulieren und so – im Falle der EZB – die Zinsstrukturkurve zusätzlich verflachen, obwohl dieser Effekt angesichts der massiven QE-Käufe der EZB und anderer Notenbanken wohl bestenfalls sekundär sein dürfte. Aber selbst in der Analyse des IWF nimmt die Diskussion der Nebenwirkungen von NIRP, die zwar bis dato noch nicht (so der IWF!) aufgetreten sind oder durch andere Faktoren überkompensiert wurden, mehr Platz ein, als die Darstellung der positiven Effekte.

Die noch positive Beurteilung des IWF basiert zum einen auf theoretischen Überlegungen:

Mit negativen Einlagenzinsen versucht die Notenbank zu verhindern, dass das von ihr geschaffene Geldangebot in der Spekulationskasse versackt, eine Situation, die von Keynes als Liquiditätsfalle beschrieben wurde und dazu führt, dass die Geldpolitik wirkungslos wird. Wenn man nun die Kassenhaltung über negative Zinsen bestraft, könnte man damit der Liquiditätsfalle entrinnen, wenn diese die Banken zur Kreditvergabe, Unternehmen zum Investieren und Haushalte zum Konsumieren verleitet. Außerdem führt der IWF – ähnlich wie die EZB – an, dass negative Nominalzinsen verhindert können, dass bei zu niedriger Inflation ein daraus resultierender zu hoher Realzins die Nachfrage über Gebühr belastet. In dieser Überlegung nimmt der sogenannte „natürliche Zins“ eine Schlüsselrolle ein. Er beschreibt das Zinsniveau, bei dem Geldpolitik keine Änderung der Wachstums- und der Inflationsrate bewirkt. Die Krux der von Keynes formulierten Liquiditätsfalle ist nun gerade eine nichtlineare Reaktion der Kreditentwicklung auf zu niedrige Zinsen. Zu hoffen, dass ein Strafzins auf die Kassenhaltung alles wieder ins Lot bringt, ist zumindest fragwürdig. Auch der These des gesunkenen natürlichen Zinses, ein Lieblingsargument der Geldpolitiker, sollte mit Vorsicht begegnet werden. Die Quantifizierung des von K. Wicksell vor mehr als hundert Jahren formulierten Konzeptes setzt die Kenntnis der Trendwachstumsrate einer Volkswirtschaft nach Abklingen vorübergehender Schocks voraus. Ein kurzer Blick auf die ex-post Revision der gängigen Schätzungen zum Trendwachstum zeigt, wie wenig belastbar diese Werte sind. Außerdem ist die Argumentation der Gelpolitiker in gewisser Weise zirkulär: Wenn die Outputlücke sich trotz niedriger Zinsen nicht reduziert und die Inflation nicht steigt, kann das in dieser Logik nur bedeuten, dass der natürliche Zins eben noch niedriger liegen muss. Damit werden alle eher strukturellen Ursachen für die aktuelle Wachstums- und investitionsschwäche, wie beispielsweise Bilanzprobleme bei den Banken und Unternehmen, elegant ausgeblendet. Der IWF attestierte sehr wohl die negativen Auswirkungen von NIRP auf die Zinsmargen und die Profitabilität der Banken. Dabei stehen die Länder im Fokus, in denen ein erheblicher Teil der Kreditzinsen variabel ist (Italien, Portugal und Spanien), bzw. die über einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Kundeneinlagen verfügen, deren Verzinsung aus Wettbewerbsgründen schwer nach unten anzupassen ist (Deutschland, Italien Portugal und Spanien). Angesichts der hohen Zahl an Ländern, in denen NIRP Probleme bereitet, kann man sich die Frage stellen, wo denn die Politik der EZB ihre segensreiche Wirkung entfalten soll? Allerdings waren die Auswirkungen auf die Profitabilität in der Eurozone bis dato laut Schätzungen des IWF eher gering: Eine Leitzinssenkung um 50 Bp. reduzierte die Nettozinsmarge der Banken nur um 7 Bp. Dabei räumt aber der IWF selbst ein, dass der Effekt mit Blick auf die Vergangenheit unterschätzt worden sein könnte und er sich zudem nach der Einführung negativer Einlagenzinsen verstärkt haben könnte. Es ist sicherlich müßig, über ein Paar Basispunkt bei derartigen Schätzungen zu debattieren, zumal die Ursache-Wirkungszusammenhänge in Zeiten von NIRP sich im Vergleich zu früher deutlich verändert haben dürften. Allerdings helfen derartige Schätzungen bei der Beurteilung von NIRP auch nicht viel weiter. Neben den potentiell dramatischen langfristigen Auswirkungen von NIRP, die der IWF ebenfalls sieht, sind es insbesondere zwei Punkte, die nach unserer Meinung in der Analyse außer Acht gelassen werden: Erstens wird der Vertrauenskanal, der bei der Transmission geldpolitischer Entscheidungen in die Realwirtschaft eine erhebliche Rolle spielt, komplett ignoriert. Umfragen und anekdotische Evidenz zeigen, dass zumindest in den nördlichen Mitgliedsländern der Eurozone die Politik der EZB zunehmend verunsichert und eher zu Attentismus, denn zu mehr Investitionen oder Konsum führt. Zweitens gibt es in dem gleichen Bericht des IWF nur ein paar Seiten vor dem Artikel zu NIRP einen Aufsatz, in dem gezeigt wird, dass die derzeitige Investitionsschwäche in der Eurozone zumindest zum Teil durch die nach wie vor hohe Verschuldung insbesondere kleinerer und mittlerer Unternehmen bedingt ist. NIRP reduziert sowohl für Kreditgeber – angesichts geringerer Gewinne infolge sinkender Zinsmargen – als auch für Kreditnehmer, deren Zinsbelastung immer weiter sinkt, den Anreiz, dies zu ändern. Ohne die Abschreibung der Fehlinvestitionen auf Seiten der Unternehmen und der notleidenden Kredite auf Seiten der Banken dürfte die Eurozone in ihrem anämischen Wachstum verharren. Negative Zinsen werden diesen Prozess über Evergreening und Zombiekredite nur verlängern.

_Ein Kommentar von Stefan Schneider, Chief German Economist und Head of German Macroeconomics Research bei _Deutsche Bank__

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