Mit dem „Multiversum“ wachsen und durchstarten

05.12.2022

Jan Schemuth, Managing Director, rpc – The Retail Performance Company / Foto: © rpc

Der stationäre Einzelhandel steckt in seiner größten Krise. Nahezu alle Beobachter sind sich daher einig: Vor allem wegen des boomenden E-Commerce muss sich der Handel vor Ort deutlich verändern, um zu überleben. Ein Symbol dieses Konkurrenzkampfes sind die Online Sales-Schlachten des Black Fridays – wo ein innovativer stationärer Handel einen realen Kontrapunkt setzen kann. Was für ein Hype hier möglich ist, hat etwa die Münchner Innenstadt zum NFL-Wochenende Mitte November vorgemacht.

Richtig gemacht, stehen die Chancen für die Branche also gut. Haupttreiber – aber auch Lösungsansatz – der Entwicklung, wie sollte es anders sein: die Konsumenten mit ihrem drastisch veränderten Kaufverhalten, das besonders durch digitale Geschäftsmodelle und neue Bedürfnisse geprägt ist. Denn Corona hat unser Leben auf den Kopf gestellt und die Digitalisierung beschleunigt. Doch auch nach der Pandemie wirken deren Rahmenbedingungen nach: Bestellungen rund um die Uhr von jedem Ort aus, schnelle, unkomplizierte Navigation und Lieferung teils binnen Minuten. Covid war der Brandbeschleuniger für ein neues Verbraucherverhalten. Digital wurde das neue „Normal“ – und ist so zu einer Überlebensfrage für den physischen Einzelhandel geworden. Wird es ihm gelingen, wieder Kauflaune zu wecken, nachdem ein Teil der Kundschaft bereits an Online-Shops verloren scheint? Und wie soll das funktionieren?

Für eine Vision und Lösung hatten sich daher unter der Leitung von rpc – The Retail Performance Company Michael Ehret, Beirat des Projektentwicklers ehret+klein, die Vorständin Michaela Pichlbauer von der Günter Rid Stiftung zur Förderung des bayerischen Einzelhandels und Julian Aisslinger, Group Manager Corporate Sustainability & Innovation der Marc O'Polo AG, zu einer Diskussionsrunde zusammengefunden. Wichtigste Erkenntnis: Damit Innenstädte überleben, müssen Händler, Verbände und Immobilienbesitzer ihre Fähigkeiten bündeln und unter den vielschichtigen Kriterien des „Retail-Multiversum“ neue Lösungsräume schaffen.

Was treibt das Retail-Multiversum?

Ein Multiversum bietet Dienstleistungen und Erlebnisse für verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten. Die jeweilige Customer Journey wird dabei völlig unterschiedlich sein, eben mehrdimensional und von analog bis digital in all seinen Facetten wie 3D, virtuellen Welten, Apps und Bitcoins. Die Zukunft des Einzelhandels liegt daher in einem vielschichtigen Vorgehen, bei dem sich analoge Erlebnisse und digitales Einkaufen perfekt verbinden. Besonders fünf Treiber eröffnen dem stationären Handel und Innenstädten neue Perspektiven: Bequemlichkeit, Gemeinschaftsgefühl, Web 3.0, Motivation & Experience und Nachhaltigkeit.

  • Bequemlichkeit: Kunden erwarten schnelle Reaktionen, weil sie es längst von neuen Anbietern gewohnt sind. Adhoc-Dienste und Schnelligkeit siegen damit über Loyalitäten. Die Lieferung von etwa Lebensmitteln binnen 10 bis 30 Minuten stellt eine Herausforderung für den Einzelhandel dar. Die Antwort: Convenience und Nowness, die sich im „Fast Retail“ ausdrückt.
  • Gemeinschaftsgefühl: Corona hat den Wunsch, ja die Sehnsucht nach Austausch im „wirklichen Leben“ befeuert. Genau hierin steckt eine Chance: Die Mehrheit aller Kunden freut sich, wieder in die Innenstädte zurückzukehren, um bei lokalen Händlern einzukaufen. Viele wollen sich in Restaurants und Cafés mit Familie und Freunden treffen. Doch Vielfalt und Besonderheit sind vielen Stadtzentren und Einzelhandelsimmobilien abhandengekommen. Die Lösungen: Spezialgeschäfte, mehr Individualität, Erlebnis-Shopping, Abwechslung, gemischte Nutzungen – mit Gastronomie, Services und anspruchsvollem Veranstaltungskalender. Denn Menschen lieben Orte, an denen das Gemeinschaftsgefühl zelebriert wird.
  • Web 3.0. Mit dem Aufkommen von Metaverse, Blockchains und NFT wird sich das Verbraucherverhalten in Zukunft ändern und nicht mehr nur von großen Marken, sondern auch von der „Community“ bestimmt. Dies könnte die Kommunikation in den Social Media-Kanälen auf eine neue Ebene heben. Die Möglichkeiten des Metaverses können ein Instrument der Markenloyalisierung darstellen und einen neuen Dialog zwischen Marken und ihren Fans hervorrufen. Digitale Impulse im Netz lösen das Interesse nach realem Erleben der Marke im Store aus. Andererseits kann eine emotionale Begegnung im physischen Retail das Interesse am Online-Auftritt von Händler und Marke auslösen – die Grenzen verwischen sich, die Kundenbeziehung wird „phygital“. Damit wird das künftige Verständnis der Customer Journey, ihrer Berührungspunkte und der Definition dessen, was „online“ bedeutet, infrage gestellt.
  • Motivation und Experience. So unterschiedlich Generation X, Z oder Millennials sind: Sie alle erwarten vom Einzelhandel Impulse und Inspiration für ihren Erlebnisdrang und Nachholbedarf nach den Corona-Einschränkungen. Mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine spüren alle Konsumenten die Auswirkungen. Allerdings differenzieren sich die Käufergruppen nun stärker: Eine steigende Zahl von Menschen – die gern kaufen würden, es sich aber aufgrund sinkender realer Kaufkraft nicht mehr leisten können – und eine begüterte Schicht, die die ökonomischen Rahmenbedingungen ignorieren kann oder auch eine „Jetzt erst recht“-Trotzhaltung zum Ausdruck bringt. Für letztere gibt es eine Vielzahl von Angeboten, die Reisen und Shopping miteinander verbinden – von Paris bis Dubai. Die Herausforderung, die sich daraus für den Handel ergibt: Wie können lokale Einzelhändler ein so einzigartiges Erlebnis wie auf einer Urlaubsreise schaffen?
  • Nachhaltigkeit: Untersuchungen zeigen, dass fast die Hälfte der Befragten mehr nachhaltige und umweltfreundliche Marken kaufen möchte. Damit korrespondiert auch ein gestiegenes Bewusstsein für Fragen, wie Unternehmer für Mitarbeiter sorgen, wofür sie stehen und welchen Beitrag sie gesamtgesellschaftlich leisten. Gefordert wird ein ganzheitlicher Ansatz, der alle Dimensionen der Nachhaltigkeit umfasst. Nachhaltigkeit muss daher gelebt, aber auch kommuniziert werden. Daneben sollten Marken besonders auch die lokale Gemeinschaft einbinden. Diese Kooperation schafft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und fördert das wechselseitige Verständnis zwischen Marke und Kunde.

Eine Überlebensstrategie sowie ein Best-Practice-Beispiel aus München finden Sie auf Seite 2.