Europa – am Tag 1 nach dem Griechenland-Programm

21.08.2018

Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG / Foto: © Bank J. Safra Sarasin

Die Wetterkarte für Europa für Tag 1 nach dem Griechenland-Programm zeigt es besser als alle ökonomischen Statistiken: Sonnenschein von Portugal bis Finnland und von Zypern bis Irland mit drei bezeichnenden Ausnahmen: Regenwolken oder Gewitter werden für Italien, Grossbritannien und Russland gezeigt. Die meisten Ökonomen würden die aktuelle Lage wohl etwas weniger positiv kommentieren als Meteorologen oder der Tourismussektor. Tatsache ist aber auch, dass viele ihrer schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten sind: Weder ist die Währungsunion auseinandergefallen, noch haben sich Deflation oder Stagflation ausgebreitet. Stattdessen ist die Arbeitslosenquote seit Mitte 2013 von 12,1% auf 8,3% gefallen und das strukturelle Haushaltsdefizit von -4,2% im Jahr 2010 auf -0,8% in diesem Jahr. Die Leistungsbilanz weist einen steten Überschuss von über 3% des BIP auf. Dabei handelt der Euro gegenüber dem USD fast auf den Cent genau auf dem Niveau seiner Einführung Anfang 1999. Das Wachstum mag nicht mehr so dynamisch sein wie im letzten Jahr, lag mit 0,4% qoq in den ersten beiden Quartalen 2018 aber ungefähr auf Potenzial und dürfte nach den letzten Stimmungsindikatoren dort wohl auch im weiteren Jahresverlauf bleiben. Dass dafür negative Geldmarktzinsen benötigt werden, wäre von den meisten allerdings wohl nicht erwartet worden.

Vor Griechenland haben bereits Portugal, Spanien, Irland und Zypern ihre Anpassungsprogramme beenden können. So erfolgreich das klingen mag – wiederholbar sind diese Programme im erneuten Krisenfall kaum. Die sozialen Härten, die die Bevölkerung vor allem in Griechenland zu erleiden hatte, wären politisch kaum tragbar. Bereits jetzt sind von Populisten in mehreren Ländern deutlich nationalistischer Töne zu hören, die die europäischen Institutionen häufig offen kritisieren. Bislang stellen Populisten lediglich in Italien die Regierungsmehrheit. Wir befürchten, dass es dabei nicht bleibt – vor allem, wenn bei einem erneuten Wirtschaftsabschwung in der Währungsunion. Es ist absehbar, dass die geldpolitischen Möglichkeiten, die Wirtschaft zu stimulieren angesichts bereits negativer Leitzinsen, begrenzt sind. Umso stärker wäre die Versuchung einer expansiven Fiskalpolitik, die in einzelnen Ländern leicht in Konflikt mit den europäischen Vorgaben kommen könnte. Dass Populisten diesen Konflikt sogar suchen könnten, scheint der inzwischen 300 Basispunkte betragende Zinsaufschlag italienischer gegenüber deutschen Anleihen zu signalisieren. Die europäischen Institutionen haben sich bislang extrem stabil und flexibel gezeigt – unklar ist aber, wie sie agieren würden, wenn europakritische Abgeordnete bei den im Mai 2019 anstehenden Wahlen zum Europaparlament die stärkste Fraktion bilden würden.

Die aktuell gute ökonomische Wetterlage sollte nicht täuschen: Auf einen Sommer folgt ein Herbst und auch Europa unterliegt einem politischen Klimawandel. Der Brexit ist ein Ausdruck davon, die Haltung einiger osteuropäischer Staaten in der Flüchtlingskrise ein anderer. Beides macht die EU nicht stärker. Dazu kommt die Türkeikrise, deren politischer Ausgang noch viel unsicherer ist als ihr wirtschaftlicher. Letztlich sollte Europa realisieren, dass das atlantische Bündnis nicht nur aufgrund der Launen des amerikanischen Präsidenten lockerer geworden ist. Es erodiert auch deshalb, weil Europa im Vergleich zu Asien an wirtschaftlicher und weltpolitischer Bedeutung verliert. Es wird daher auch für folgende US-Präsidenten eine weniger wichtige Stellung einnehmen. Diesen unvermeidbaren Bedeutungsverlust zu begrenzen, war ein Ziel der europäischen Integration. Die friedliche Lösung innereuropäischer Spannungen war ein anderes. Beide scheinen zuletzt zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Sie sollten es nicht. In der nun eingeläuteten Phase, in der mit Griechenland der letzte Staat ein Anpassungs- und Hilfsprogramm hat beenden können, sollte sich Europa kritisch damit auseinandersetzen, was politisch und ökonomisch in den letzten Jahren funktioniert hat und was nicht. Es muss diskutieren, warum die wirtschaftliche Erholung und beispielsweise die Gesundung des Bankensektors so viel später eingesetzt haben als in den USA.

Europa hat eine einmalige Fähigkeit, politische Kompromisse zu finden. Zu häufig kehren diese die eigentlichen Probleme aber unter den Tisch und verschleppen ihre Lösung. Symptomatisch dafür scheint die immer stärkere zeitliche Streckung der Rückzahlung griechischer Schulden zu sein. So hat auch ein öffentlicher Diskurs, wie ökonomischen Ungleichgewichten innerhalb einer Währungsunion ohne die Möglichkeiten von Wechselkursanpassungen und Fiskaltransfers begegnet werden können, immer noch nicht stattgefunden. Ökonomisch mag sich so der ein oder andere unangenehme Anpassungsprozess verzögern. Verhindern lässt er sich dadurch nicht. Europa sollte den ökonomischen Sommer stärker für institutionelle Reformen nutzen – aber vor allem auch um zu einen neuen Selbstverständnis zu finden. Populisten werden es sonst in einer Zurückbesinnung des Nationalen suchen.

Kolume von Karsten Junius, Chefvolkswirt Bank J. Safra Sarasin AG