EU-Austritt Großbritanniens ist kein "Lehman-Moment"

26.06.2016

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Da hatten die Meinungsumfragen einmal recht: Die "Bleiben"- und "Gehen"-Lager lieferten sich im gestrigen Referendum der Briten zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein Kopf-an-Kopf-Rennen und nur eine knappe Mehrheit von 52 Prozent der Wähler hat entschieden, den Status Quo abzulehnen und auszutreten.

Die Märkte haben drastisch reagiert: U.K Aktienindex-Futures sind eingebrochen und das Pfund Sterling fiel auf ein Niveau der 1980er Jahre. Sichere Häfen wie Gold, Bundesanleihen und US-Treasuries sehen erhebliche Investorennachfrage. Auch der Euro ist unter Druck geraten. Ohne Zweifel wird dies die erste von vielen brisanten Handelssitzungen, und die großen Zentralbanken stehen bereit, bei Bedarf einzugreifen. Aber wir warnen davor so zu reagieren, als wäre dies ein zweiter "Lehman-Moment", wie einige Kommentatoren unterstellen. Die Wahrscheinlichkeit von zumindest mittelfristigen Schäden an der britischen Wirtschaft aufgrund einer Brexit-Abstimmung sowie eine ausgeprägte Volatilität im Markt im Zuge von politischer Unsicherheit und negativer Folgen für die EU als Ganzes, führte dazu, dass unser Multi-Asset-Class-Team eine vergleichsweise neutrale Haltung eingenommen hat. Dieser Puffer dient aber nicht nur um Volatilität abzufedern, sondern auch um zu gewährleisten, dass das Team in der Lage ist, Chancen zu nutzen, etwa indem – basierend auf einer längerfristigen Perspektive – auch riskantere Vermögenswerte beigemischt werden. Dennoch hat Großbritannien den steinigeren der beiden Wege gewählt. Es türmen sich die politischen Herausforderungen, in die sich die Verwaltung von Premierminister David Cameron und Kanzler George Osborne verbissen hat. Das Brexit-Lager ist klar im Aufwind, aber die Abstimmung zeigt den Mangel an nationalem Konsens. Und selbst ein Konsens würde die Komplexität dieses Ausstiegs nicht wettmachen – eine mehrjährige, „monumentale" Aufgabe in den Augen eines Rechtsexperten.

Der wirtschaftliche Schaden wird andauern

Das Ergebnis verlängert wohl die Phase der niedrigen Unternehmensinvestitionen, wie wir sie im Vorfeld der Abstimmung gesehen haben, sowohl bei ausländischen Direktinvestitionen als auch in Großbritannien selbst. Zusammen mit den höheren Kosten für den Handel bedeutet dies zu 3 bis 7 Prozentpunkte weniger beim britischen BIP, prognostiziert die breite Masse der Ökonomen. Der Schmerz wird nicht gleichmäßig zu spüren sein: Viele der großen Unternehmen im FTSE 100 Index sind weltweit aufgestellt und keine rein britischen Unternehmen — 80 Prozent des Umsatzes im Index kommen aus Übersee. Das dämpft jeden Abschwung im Heimatland und bedeutet potenziell sogar einen Glücksfall durch das geschwächte Pfund. Kleinere, eher auf das Inland ausgerichtete Unternehmen sind anfälliger für einen Rückgang der Nachfrage und höhere Importkosten. Hier bieten sich gute Gelegenheiten während eines Sell-off britischer Vermögenswerte, gerade, wenn Großbritannien über einen längeren Zeitraum an seinem neuen Status arbeitet. An anderer Stelle in Europa dürften die wirtschaftlichen Auswirkungen deutlich zu spüren sein. Mit den Worten eines Fed-Präsidenten wird das Ergebnis jedoch nur "moderate direkte Auswirkungen auf die US-Wirtschaft in der nahen Zukunft" haben. Auch hier sehen wir eine übersteigerte Marktreaktion eher als mögliche Quelle guter Investitionsgelegenheiten.

Ein weiterer Schlag für die Globalisierung?

Eine pessimistischere Interpretation der Abstimmung würde sie als weiteren Riss im Gebäude der internationalen politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der vergangenen 70 Jahren sehen. Den Anti-EU-Parteien in Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien wird das Ergebnis weiteren Auftrieb verleihen und der Euroskeptizismus tritt in Meinungsumfragen auf dem gesamten Kontinent immer deutlicher zu Tage. Doch dies bestätigt nur, dass die Globalisierung derzeit schwer in der Kritik steht, eine Entwicklung, die bereits weit fortgeschritten und von den Finanzmärkten erkannt ist. Jenseits von Europa scheint es unwahrscheinlich, dass das Ergebnis die bevorstehende Präsidentschaftswahl beeinflusst – zumal, wie der ehemalige Finanzminister Hank Paulson uns in einem exklusiven Interview auf unserem CIO Gipfel diese Woche gesagt hat, weder der republikanische noch der demokratische Kandidat eine positive Sicht auf globalen Handel und Investments vertritt.

Schauen Sie durch das Getöse auf das Wesentliche

Am wichtigsten ist, dass diese Abstimmung nur marginale Auswirkungen auf die globalen wirtschaftlichen Fundamentaldaten hat, die zwar schwach, aber stabil bleiben. Unabhängig von dem Ergebnis heute bewegen wir uns immer noch in einem Umfeld, geprägt von langsamen Wachstum, niedriger Inflation, Niedrigzinsen sowie von träger Produktivität und wenig Investitionen. Der sogenannte Brexit wurde als Tail Risk gesehen, das die Märkte genauso verfolgt wie der Ölpreis, der starke Dollar und Befürchtungen wegen China, die im Januar und Februar hohe Volatilität verursacht haben. Und wieder raten wir Investoren: Schauen Sie durch das Getöse und passen Sie Ihr Portfolio den langfristigen Fundamentaldaten und Risiken an. Das kann bedeuten, Chancen zu nutzen und dem Portfolio einige risikoreichere Anlagen hinzuzufügen, wenn bei der anfänglichen Volatilität das Schlimmste überstanden ist. Auf längere Sicht brauchen wir weitere Strukturreformen und eine bessere finanzpolitische Antwort auf das aktuelle Unbehagen an vielen Orten der Welt, wenn wir unsere Volkswirtschaften auf eine solide Basis stellen und unsere Unternehmen nachhaltig wachsen lassen wollen. Dieser Prozess muss die berechtigten Sorgen derjenigen, die bisher nicht von der Globalisierung profitiert haben, berücksichtigen. Doch Populismus und politische Spaltung sind nicht der Weg dazu. In dieser Hinsicht ist das heutige Ergebnis keine gute Nachricht. Aber ihre Auswirkungen sind gering und die erste Markt-Reaktion bietet voraussichtlich gute Gelegenheiten für geduldige Anleger, die einen kühlen Kopf bewahren.

Die drei CIOs des unabhängigen US-Asset-Managers NEUBERGER BERMAN kommentieren aktuell das Ergebnis des britischen Referendums zum Ausstieg aus der Europäischen Union: Joe Amato, President und Chief Investment Officer – Aktien, Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi Asset Class, Brad Tank, Chief Investment Officer – Fixed Income

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