Erreichen der Klimaneutralität darf kein Luftschloss bleiben

18.09.2021

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Bereits jetzt sind Klimaauswirkungen spürbar. Auch hierzulande. Viel Zeit haben wir nicht mehr, um das "Ruder rumzureißen" und die Treibhausemissionen nachhaltig zu senken. Das ist auch ein zunehmend interessantes und vielschichtiges Thema in der Portfolioallokation. Metzler AM spricht in diesem Zusammenhang von „integrierten Klimamodellen“. Was es damit auf sich hat, dazu äußerten sich Oliver Schmidt (Deputy Chief Investment Officer) und Jan Rabe (Leiter Sustainable Investment Office), Metzler Asset Management GmbH, im finanzwelt-Interview. 

finanzwelt: Der Weltklimarat IPCC hat jüngst seinen aktuellsten Bericht vorgelegt. Düster ist die Prognose. Wie fällt Ihr Fazit hierzu aus? Jan Rabe: Es ist Zeit zu handeln. Auf Basis der Berechnungen des Weltklimarats kann die Erdatmosphäre Stand Anfang 2020 lediglich 400 weitere Gigatonnen CO2 aufnehmen, damit der durchschnittliche Temperaturanstieg auf 1,5° C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zwischen 1890 bis 1900 begrenzt bleibt. Genau dieses Ziel wurde im Pariser Klimaabkommen 2015 zwischen der EU und 194 weiteren Staaten ausgehandelt. Unter Annahme eines konstanten Verbrauchs von 42 Gigatonnen pro Jahr wäre dieses Budget in knapp acht Jahren aufgebraucht.[1] Dies steht in starkem Kontrast zu den Zielen der internationalen Politik, die mit ihren Maßnahmen aktuell auf ein Ziel von 2,7 bis 3,1° C zusteuert.[2] Diese Implementierungslücke gilt es zu schließen. Hierzu müssten bestehende Regulierungen allerdings drastisch verschärft und ausgeweitet werden, wenn das Erreichen der Klimaneutralität kein Luftschloss bleiben soll.

finanzwelt: Und so ließe sich der Ausstoß von Treibhausgasen signifikant senken, richtig? Oliver Schmidt: Der Haken hierbei ist: In der öffentlichen Diskussion wird davon ausgegangen, dass durch das Streben nach Klimaneutralität auch die weltweite, aggregierte Nachfrage nach fossilen Energieträgern sinkt und somit zu einer Verlangsamung des Klimawandels beiträgt. Ganz so einfach ist das jedoch nicht. Auf einem Markt für endliche, nichtreproduzierbare Güter wurde bislang das, was der eine weniger konsumierte, vom anderen zu einem niedrigeren Gleichgewichtspreis nachgefragt. Das war möglich, weil das Angebot an fossilen Energieträgern starr blieb – die geförderte Menge reagierte kaum auf Veränderungen der Marktpreise. Würde internationale Klimapolitik künftig stärker koordiniert werden, könnte sich das ändern. Unser Basisszenario ist auch, dass genau dies künftig der Fall sein wird. Entwickeln sich regulatorische Vorgaben jedoch nicht – wie angekündigt – stringent und auf globaler Ebene koordiniert, werden sich die Produzenten fossiler Energieträger wohl kaum mit niedrigeren Einnahmen zufriedengeben. Vor allem dann nicht, wenn sie befürchten müssen, dass ihre Güter künftig kaum noch nachgefragt werden. So besteht der Anreiz, die Fördermenge kurzfristig sogar noch zu steigern, was den Klimawandel weiter negativ beeinflussen könnte.

finanzwelt: Wie kann dem Einhalt geboten werden? Rabe: Solange internationale Klimapolitik unilateral betrieben wird und Instrumente zum Einsatz kommen, die den Produzenten fossiler Energieträger dazu anhalten, Fördermengen zu erhöhen statt zu senken, ist davon auszugehen, dass globale Treibhausgasemissionen langfristig weiter steigen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte laut Nobelpreisträger William D. Nordhaus ein Nachfragekartell mit einheitlichem CO2-Preis sein, also einem globalen Zertifikatehandel für CO2-Emissionen.[3] Hierfür müssten sich ausreichend viele Staaten – im besten Falle die Runde der G20 (verantwortlich für 75 % des weltweiten Handels und 80 % des globalen Bruttoinlandsprodukts) – zu einem „Klima-Club“ zusammenschließen und neben dem Streben nach Klimaneutralität den Handel mit Dritten ausschließen. Nur wer sich den Zielen des Clubs verschreibt, würde in den Handel eingebunden. Ergänzt werden könnte dies durch eine Quellensteuer auf die Erträge aus der Förderung fossiler Energieträger, um die Kapitalanlage der so erzielten Umsätze unattraktiv zu machen. Solange eine solche Initiative ausbleibt, muss davon ausgegangen werden, dass die Produktion fossiler Energieträger langfristig steigt und die Preise hierauf fallen werden.

finanzwelt: Unternehmen beschreiten den Weg der „glaubwürdigen Transformation“ (CO2-Reduktion). Inwiefern können Sie die Unternehmen hierbei begleiten? Schmidt: Unsere Erfahrung zeigt, dass der konstruktive und partnerschaftliche Dialog mit dem Management eines Unternehmens, in das wir im Auftrag unserer Kunden investieren, eher zu einem Umdenken in Sachen Klimawandel führt, als das öffentliche Anprangern von Missständen. Wir bezeichnen diesen Ansatz als „Silent Active Ownership“. Denn die meisten Unternehmen haben das Thema Nachhaltigkeit als Ganzes frühzeitig antizipiert – auch aus moralischen Gründen, vornehmlich allerdings zur Erschließung von Geschäftspotenzialen. Dementsprechend hat sich das Know-how beim Thema ESG bei den Konzernen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Unternehmen ist es in den überwiegenden Fällen wichtig, wie sie aus Perspektive der Kapitalmärkte in Sachen Nachhaltigkeit oder Klimarisiken bewertet werden. Modelle zur Berechnung von Klimarisiken bedürfen vieler kontrovers zu diskutierender Annahmen. Hinzu kommt, dass die Ergebnisse führender Anbieter solcher Modelle voneinander abweichen und keineswegs zu einheitlichen Aussagen kommen. Der Dialog zwischen Unternehmen und Investoren hilft, um einerseits die Erwartungshaltung der Investoren und andererseits die Realisierbarkeit durch die Unternehmen realistisch einschätzen zu können. An erster Stelle steht daher im Dialog mit dem Management die Aufklärung darüber, wie sich entsprechende Risiken und Chancen auf die Ertragsfähigkeit des Unternehmens auswirken könnten. Eine Transformation ist dann als glaubwürdig einzustufen, wenn die Ergebnisse einer solchen Analyse in Handlungsalternativen überführt werden, die positiv zu ökologischen Zielen beitragen – beispielsweise denen der Vereinten Nationen –, und die das Potenzial haben, Kapitalrenditen zu stärken bzw. Kapitalkosten zu senken. Wichtig hierbei ist, dass gesetzte Ziele auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen und im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen stehen.

finanzwelt: Klimaneutralität im Wertpapierportfolio wird vielerorts beschworen. Doch ist es auch vergleichsweise einfach, das adäquat umzusetzen? Rabe: Im Rahmen diskretionär gemanagter Anlagestrategien, deren Erfolg sich anhand von Rendite-Risiko-Vergleichen gegenüber breiten Marktindizes bemessen, ist ein differenzierter Ansatz erforderlich, um entsprechende Vorgaben ökonomisch sinnvoll umzusetzen. Im Vordergrund steht das Absenken des aggregierten Erderwärmungspotenzials eines Portfolios. Um Unternehmen auf Konformität gegenüber dem 1,5°-C-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen zu prüfen, werden deren Treibhausgasintensitäten (CO2-Äquivalente im Verhältnis zu den Umsätzen) mithilfe komplexer Klimamodelle in zukunftsgerichtete Erderwärmungspotenziale umgerechnet. Hierzu werden nationale Kohlenstoffbudgets Branchen zugeordnet und dann auf einzelne Unternehmen heruntergebrochen. Jedoch sollten Portfolios nicht zwangsläufig nach dieser Kennzahl optimiert werden.

finanzwelt: Weshalb nicht? Rabe: Viele Unternehmen, denen hohe Erderwärmungspotenziale attestiert werden, wie zum Beispiel aus den Branchen Energie, Versorger oder Industriegüter, sind oft auch diejenigen, die als Lösungsanbieter in Sachen Bekämpfung des Klimawandels gelten. Ist in diesen Fällen von einer erfolgreichen Transformation der Geschäftsmodelle auszugehen, würde man durch Ausschluss oder ein Untergewicht dieser Titel Chancenpotenzial unbeachtet lassen. Auch ginge ein Portfolio, das bereits heute 1,5°-C-konform ist, mit unzumutbaren Restriktionen einher. Lediglich 10 % der Unternehmen innerhalb eines liquiden, globalen Anlageuniversums weisen ein Erderwärmungspotenzial von 1,5° C oder kleiner aus. Und nur 20 % liegen unter 2° C. Das Erwirtschaften von Überschussrenditen würde so erratisch werden. Im Übrigen sind auch sogenannte „Paris-aligned“-Vergleichsindizes, die auf Vorgaben der EU-Kommission aufbauen, heute nicht als klimaneutral zu bewerten. Selbst deren aggregiertes Erderwärmungspotenzial liegt bei etwa 3° C.

finanzwelt: „Integrierte Klimamodelle“ – wie schaut das im Kontext der Portfoliokonstruktion konkret aus? Schmidt: Nachdem Portfoliotitel umfassend auf Klimachancen und -risiken hin untersucht und für attraktiv befunden wurden, analysieren wir das Exposure des Portfolios mithilfe eines mehrdimensionalen Portfoliokonstruktionstools, das wir QbrickS® getauft haben.[4] Die Ergebnisse hieraus geben Aufschluss darüber, ob Nachhaltigkeitspräferenzen zu unerwünschten Nebeneffekten auf anderen Investitionsebenen geführt haben, zum Beispiel bei den Risikoprämien oder der Allokation via Branchen oder Regionen. Ist dies der Fall, gibt es zwei Alternativen: Eine Anpassung einzelner Gewichtungen von Titeln vornehmen, die nach fundamentaler Analyse als attraktiv empfunden wurden, um exzessive Risikokonzentrationen zu neutralisieren, ohne dabei die Ausrichtung des Portfolios und dessen Strategie zu verändern. Lässt sich dies nicht alleine mithilfe der Bestandstitel erreichen, werden weitere Titel in die Analyse einbezogen, die von den jeweiligen Portfoliomanagern im Rahmen ihrer erweiterten Watchlists freigegeben wurden – also Titel, die potenziell zur Anlagestrategie passen. All dies geschieht, ohne dabei die Nachhaltigkeitspräferenzen oder zugrundeliegenden Anlagerichtlinien zu verletzen.

finanzwelt: Wo erkennen Sie in der Diskussion um Netto null noch dringenden Handlungsbedarf? Rabe: Die größte Herausforderung für unsere Gesellschaft besteht darin, den Klimawandel gemeinschaftlich abzuwenden. Dies setzt die Einsicht voraus, dass wir mit unilateralen Initiativen den Verdrängungseffekten und den daraus resultierenden Fehlanreizen für Produzenten fossiler Energieträger nicht Herr werden können. Ein Beispiel: Nehmen wir an, die kritische Auseinandersetzung mit dem Management eines börsennotierten Unternehmens führt dazu, dass sich deren ökologischer Fußabdruck durch den Verkauf kontroverser Vermögenswerte an ein privates Unternehmen verbessert hat, weil der Ausstoß von Treibhausgasen um x % reduziert werden konnte. Dann verbessert sich auf den ersten Blick die CO2-Bilanz des Portfolios. Jedoch ist der Effekt auf die Realwirtschaft als neutral zu bewerten, weil der verkaufte Vermögenswert weiterhin produktiv genutzt und nicht stillgelegt wird. Der Effekt dieser Transaktion könnte unter Umständen sogar negativ sein, wenn die Kapitalgeber des privaten Unternehmens ihre Renditeerwartung erhöhen und dies nur durch eine verstärkte Auslastung des Vermögenswertes glauben erreichen zu können. Im Umkehrschluss bedeutet das: Vorgaben, die für börsennotierte Unternehmen gelten, müssen auch außerhalb der Kapitalmärkte Anwendung finden, damit mühsam errungene Erfolge nicht verwässert werden. (ah)

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Oliver Schmidt (li.) und Jan Rabe (re.) - Foto: © Metzler AM[/caption]

[1] Mercator Research Institute for Global Commons and Climate Change Berlin (Stand September 2021): https://www.mcc-berlin.net/en/research/co2-budget.html

[2] Climate Action Tracker (Stand September 2021): https://climateactiontracker.org/global/temperatures/

[3] Nordhaus, W. (2015): „Climate Clubs: Overcoming Free-riding in International Climate Policy”, American Economic Review, 105(4).

[4] QbrickS® ist einem modularen, dreidimensionalen Würfel nachempfunden (englisch: cube, oder „Q“), dessen Bausteine („brick“) durch eine einheitliche Investitionslogik verbunden sind und so die Integration von Nachhaltigkeit (Sustainability, oder „S“) in die Anlagestrategie ermöglichen.