Der "Fluch" des Zinseszinseffektes

25.09.2016

Jim Cielinski

Die aktuellen Niedrigzinsen zwingen Sparer, über neue Anlageformen nachzudenken. Es ist nicht mehr wie früher, dass der Zinseszinseffekt ein stetiges Geldwachstum garantiert hat.

Kolumne von Jim Cielinski, Global Head of Fixed Income bei Columbia Threadneedle

Die Folgen der Finanzkrise werden uns noch viele Jahre beschäftigen. Die rekordniedrigen Zinsen sind die wohl wichtigste dieser Folgen. Die sinkenden Zinsen haben die Anleihen- und Aktienkurse steigen lassen und Anlegern so in den letzten fünf Jahren satte Gewinne beschert. Die Rallys an den Finanzmärkten haben einige der Probleme verschleiert, die durch niedrige Zinsen entstehen. Dass dadurch kurzfristig mit niedrigeren Erträgen zu rechnen ist, wissen die meisten Sparer. Die längerfristigen Folgen aber werden von vielen unterschätzt und bislang kaum gespürt – gefährden aber die Altersvorsorge in ungekanntem Ausmaß.

Den größten Teil ihres Lebens haben sich Anleger beim Vermögensaufbau auf das „Wunder des Zinseszinses“ verlassen. Dadurch, dass die Zinsen nach jeder Zinsperiode dem Sparkapital zugeschlagen und fortan mitverzinst werden, entfaltet der Zinseszinseffekt bei der langfristigen Anlage eine große Wirkung. Viele Studien belegen diese Wirkung und zeigen, dass es einen Riesenunterschied macht, ob jemand mit 20 oder erst mit 30 anfängt, Geld für das Alter zurückzulegen.

In den vergangenen Jahren hat der Zinseszinseffekt seinen Dienst zuverlässig getan. Von 1996 bis 2016 wurde ein zu 60% aus Aktien und zu 40% aus Anleihen bestehendes Portfolio in Europa mit durchschnittlich 6,1% pro Jahr verzinst. Auf diesem Niveau können Sparer ihr Vermögen alle zwölf Jahre verdoppeln – sogar mit den sichersten Anleihen. In Großbritannien lag der durchschnittliche Basiszins in diesem Zeitraum bei 3,4%, britische und deutsche Staatsanleihen rentierten mit durchschnittlich 4,7% bzw. 3,6%. Selbst ohne jegliches Kapitalwachstum hätte sich das Vermögen auf diesem Renditeniveau alle 17-21 Jahre verdoppelt. Durch den Zinsrückgang aber haben Anleihen tatsächlich höhere Erträge abgeworfen als viele Mischportfolios.

Die Niedrigzinsen haben aus dem Wunder des Zinseszinses einen ‚Fluch‘ gemacht. Britische und europäische Staatsanleihen rentieren aktuell nur noch mit rund 0,5%. Damit bräuchte ein Sparer etwa 140 Jahre, um sein Geld zu verdoppeln. Ihre Altersvorsorgeziele werden heutige Sparer so kaum erreichen. Eine einfache Alternative haben sie aber auch nicht. Am Geldmarkt ist nichts zu holen und eine Diversifikation in Aktien, um teure Rentenanlagen zu meiden, ist riskant. Wir befinden uns in der Spätphase des Zyklus und das Risiko einer deflationären Rezession könnte an den Aktienmärkten zur Kursrückgängen von 25-30% führen. Und ohne Rückenwind durch sinkende Zinsen könnten Anleger mit Aktien in den kommenden Jahren auch kaum mehr als die nominale Wachstumsrate verdienen.

Diese Entwicklung stellt die Tragfähigkeit vieler leistungsorientierter Pensionspläne in Frage. Den Anbietern derartiger Pläne wird nur allzu bewusst sein, dass die sinkenden Zinsen den Wert ihrer Verbindlichkeiten immer weiter in die Höhe getrieben haben. Rund 85% dieser Pläne schreiben inzwischen rote Zahlen. Die Auswirkungen des ausbleibenden Zinseszinseffekts sind hier sehr deutlich – als Deckungslücke – sichtbar. Nur werden sie ignoriert oder durch überzogene Renditeannahmen ausgeblendet.

Anpassung an eine neue Realität

Pensionsfondsanbieter und Finanzberater weichen der Problematik aus und gehen weiter davon aus, dass sie künftig wieder ähnlich hohe Renditen wie in der Vergangenheit einfahren werden. Es ist Zeit, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Altersvorsorgepläne basieren häufig auf unrealistischen, veralteten Szenarien. Derweil scheinen die Sparer ständig in den Rückspiegel zu schauen. Wenn man sie nach den Renditeerwartungen für ihre Anlageportfolios fragt, nennen Kunden immer noch Werte von 5-8%. Derartige Erträge sind mit den aktuellen Bewertungsrelationen unvereinbar.

In der Vergangenheit mag es ausgereicht haben, mit 40 anzufangen zu sparen und bis zum Eintritt in den Ruhestand 10% seines Gehalts zurückzulegen. Im heutigen Niedrigzinsumfeld ist so kaum eine auskömmliche Altersversorgung zu erzielen.

Dieses Dilemma stellt die Anbieter von Lösungen für den Vermögensaufbau vor große Herausforderungen und könnte die Branche revolutionieren. Wie können Sparer künftig ausreichend Vermögen aufbauen und wie kann ihnen die Altersvorsorge- und Investmentindustrie dabei helfen?

Vor allem muss das Bewusstsein für die Problematik zunehmen. Dann können Anleger auch von ihren bisherigen Annahmen abrücken. Im Idealfall würden die Sparer einfach mehr zurücklegen, um die Lücke zu schließen. Da aber die Reallöhne kaum steigen, werden sich die meisten Sparer schwertun, mehr für das Alter zurückzulegen.

Nach vielen Jahren wirtschaftlicher Stagnation haben die Japaner dies erkannt und begonnen, mehr in ihre Altersvorsorgefonds einzuzahlen. Aber auch diese Lösung ist kein Allheilmittel: Verbraucher, die heute weniger konsumieren, um mehr zu sparen, hemmen dadurch das Unternehmenswachstum. Das Ergebnis ist ein sich selbst verstärkender Schwächezyklus mit niedrigen Renditen und überhöhten Ersparnissen.

Wie also lautet die Antwort? Vermutlich werden sich alle Augen auf Anlagestrategien als möglichem Ausweg richten. Die Suche nach Rendite wird wichtiger denn je werden. Auf der Suche nach den attraktivsten risikoadjustierten Erträgen werden sich die Investmentmanager vermutlich weltweit umschauen. In Japan lässt sich dieser Trend bereits beobachten: Hier investieren Anleger auf der Suche nach Rendite bereitwillig im Ausland.

Agile Manager, die durch Anpassungen ihrer Cash-, Anleihe- und Aktienquoten auf Änderungen des Wirtschaftsumfelds reagieren können, werden gefragt sein. Dieser Trend zeigt sich bereits in der zunehmenden Popularität intelligenter, flexibler Multi-Asset-Strategien. Ein weiterer Gewinner werden ausgefeilte Lösungen zur Steuerung der Volatilität sein. Es überrascht nicht, dass Produkte mit Volatilitätssteuerung, die den Anlegern das Problem der richtigen Vermögensaufteilung abnehmen, immer beliebter werden. Wie auch immer die Anlagestrategie letztlich aussieht – sie wird viel härter arbeiten müssen. Gleichzeitig werden die Anleger die Performance der Asset Manager kritischer prüfen und von aktiven Managern erwarten, dass sie die Erträge erwirtschaften, die ihre Kunden von ihnen erwarten. Auch Sparer werden härter arbeiten müssen und mehr Geld zurücklegen, da ihre potenziellen Renditen künftig niedriger ausfallen dürften als sie es aus der Vergangenheit gewohnt sind.

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