Gedämpfte Aussichten

05.06.2016

Axel D. Angermann, Chef-Volkswirt FERI

Die wirtschaftliche Lage in Großbritannien hat sich in den vergangenen Monaten deutlich verschlechtert: In unserer aktuellen Prognose erwarten wir für das laufende Jahr daher nur noch ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent statt wie bisher 2,0 Prozent.

Die konjunkturelle Abkühlung hatte sich bereits seit längerem abgezeichnet: Praktisch sämtliche Stimmungsindikatoren haben sich deutlich von ihren im Jahr 2014 erreichten Höchstständen entfernt. Der Einkaufsmanagerindex für die Industrie liegt aktuell nahe der 50-Punkte-Marke und signalisiert damit für die nahe Zukunft eine Stagnation der Industrieproduktion. Zwar liegt der Einkaufsmanagerindex im gesamtwirtschaftlich weitaus wichtigeren Dienstleistungssektor noch deutlich über 50 Punkten, weist aber bereits seit Ende 2013 einen kontinuierlichen Abwärtstrend auf. Der Einzelhandelsumsatz ist aktuell knapp 4% höher als im Vorjahr, Anfang 2015 waren es jedoch noch etwa 6 Prozent. Die Abkühlung ist zunächst als Normalisierung im Konjunkturzyklus anzusehen: Großbritannien erreichte 2014 mit 3,1 Prozent und 2015 mit 2,6 Prozent hohe Wachstumsraten fast auf dem Niveau der Jahre vor Ausbruch der Finanzkrise. Als sehr hilfreich für die Überwindung der Krisenfolgen erwies sich die expansive Geldpolitik der Bank of England, die sehr viel früher als die EZB zu Maßnahmen der quantitativen Lockerung griff und die Zinsen auf Rekordtiefs senkte, auf denen sie noch immer verharren. Daneben bestand ein gewisser Aufholbedarf: Großbritannien brauchte deutlich mehr Zeit als etwa Deutschland, um den Einbruch infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise zu überwinden. Während Deutschlands Wirtschaftsleistung bereits im 1. Quartal 2011 wieder das Vorkrisenniveau erreichte, war dies  in Großbritannien erst im 2. Quartal 2013 und damit mehr als zwei Jahre danach so weit. Zuletzt hatte die britische Wirtschaft mit der 2014 ausgelösten Rallye die deutsche deutlich überflügelt. Mit der Beendigung des QE-Programms der Zentralbank, dem Wiedererreichen eines sehr hohen Beschäftigungsstandes (die Arbeitslosenquote liegt aktuell bei 5,1 Prozent) und außenwirtschaftlichen Belastungen, die auch an Großbritannien nicht spurlos vorbeigehen, ist eine Normalisierung hin zu Wachstumsraten um die 2 Prozent nicht überraschend.

Unsicherheitsfaktor EU-Referendum

Zusätzlich wirkt die Unsicherheit um den Ausgang des EU-Referendums am 23. Juni belastend: Das drohende Szenario eines EU-Austritts dürfte dazu führen, dass sich viele Unternehmen vor dem Referendum mit Investitionen zurückhalten werden. Im 2. Quartal ist deshalb vor allem mit einem spürbaren Sinken der Investitionstätigkeit zu rechnen, was die gesamtwirtschaftliche Dynamik in die Nähe der Null bringen dürfte. Für unsere Prognose unterstellen wir derzeit ein Verbleiben Großbritanniens in der EU und folgerichtig wieder anziehende Investitionen in der zweiten Jahreshälfte sowie eine Fortsetzung des grundsätzlich positiven Trends im privaten Verbrauch sowie eines leicht negativen Außenbeitrags. Insgesamt ergibt sich damit für das Jahr 2016 eine Wachstumserwartung von 1,6 Prozent - etwa ein Prozentpunkt weniger als im Vorjahr. Sollten die Briten am 23. Juni allerdings gegen einen Verbleib ihres Landes in der EU stimmen, ist mit einem weiteren Verfall des Pfunds und vor allem mit einem mindestens temporären Versiegen der für das Land wichtigen Kapitalimporte zu rechnen. Die wirtschaftlichen Perspektiven für das zweite Halbjahr 2016 und auch für das Jahr 2017 würden sich dann erheblich eintrüben.

Der Autor: Axel D. Angermann analysiert als Chef-Volkswirt der FERI Gruppe

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